ICH WAR NOCH NIEMALS IN Niederhelfenschwil SG
In der Schweiz gibt man sich gerne bescheiden. Grössenwahnsinniges Streben nach Superlativen ist eher nicht so unser Ding, denn wir sind ja die Auf-dem-Teppich-bleiben-Typen. Und so verhält es sich auch mit der Länge von Ortsnamen. Der längste einteilige Ortsname der Schweiz zählt gerade mal achtzehn Buchstaben. Im internationalen Vergleich ist dies lachhaft. Das Land Wales etwa hat eine Gemeinde namens Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch* vorzuweisen. Und etwas weiter weg, auf Neuseeland, gibts den Taumatawhakatangihangakoauauotamateaturipukakapikimaungahoronukupokaiwhenuakitanatahu. Aber dies bezeichnet keinen Ort, an dem Menschen leben, sondern bloss einen 305 Meter hohen Hügel. Deshalb gilt Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch mit seinen achtundfünfzig Buchstaben als längster einteiliger Ortsname. Auch im europäischen Ranking ist die Schweiz nicht auf den vorderen Plätzen zu finden, liegt etwa hinter Deutschland (Gschlachtenbretzingen), Frankreich (Mittelschaeffolsheim) oder Ungarn (Jászfelsoszentgyörgy).
Der Ort mit dem längsten Namen der Schweiz heisst übrigens Niederhelfenschwil, im Kanton St.Gallen gelegen. Zur politischen Gemeinde zählen auch die Nachbardörfer Lenggenwil und ein Ort, dessen Name nach einer Technoparty in den Neunzigerjahren klingt (Zuckenriet). Was kann man über Niederhelfenschwil sagen? Die Einwohnerzahl liegt bei knapp über 3000 und es fährt zweimal die Stunde ein Postauto nach Wil (Fahrzeit 33 Minuten). Das Restaurant Kreuz ist zurzeit geschlossen, aber es hat einen Metzger, und der Dorfladen namens Hinz & Kunz (Slogan «frisch – frech und fit») bietet ein reichhaltiges Angebot (der knusprige Gemüsespeckkuchen aus der hauseigenen Backstube bekommt von mir die volle Punktzahl). Mitten im mehr oder minder zentrumslosen Dorf findet sich an der Hauptstrasse aufgereiht auch Gewerbe und Industrie sowie eine Renault-Garage, was den Umstand erklärt, dass die französische Marke in Niederhelfenschwil nach VW die zweitbeliebteste ist. 187 Renaults sind hier zugelassen, was einen Anteil von 95,9 auf 1000 Autos macht (im Schweizer Schnitt kommt Renault auf lediglich 41,6 pro 1000 Autos). Die Parteistärke der SVP liegt bei strammen 36,4%, die der SP bei lahmen 6,7%. Sozialhilfequote: 0,3% (Landesschnitt 3,2%).
Die Gemeinde schreibt auf ihrer Homepage: «Niederhelfenschwil hat keine Sehenswürdigkeiten, es ist eine.» Einen Eindruck davon erhält man auf dem leider nicht näher ausgeschilderten Rundweg (13km, 341Hm), der einen reichhaltigen Mix aus Wiese, Wald und Menschengemachtem bereithält und an so manchem ans Kreuz genagelten Jesus sowie einem der scheinbar schwer angesagten Carports vorbeiführt. Hinter Zuckenriet geht der Weg gar durch einen in der Schweiz nur selten anzutreffenden Orchideenreichtum, welcher etwa die Art Cypripedium calceolus (Gelber Frauenschuh) beinhaltet.
Selbstverständlich ist es nicht möglich, sich ein Urteil zu bilden über einen Ort, den man nicht kennt, sondern bloss mit offenen Augen durchwandert, so sehr man diese Augen auch aufreissen mag. Ich weiss aber, wie es sein kann, in einem Dorf aufzuwachsen und dort zu leben – nicht alle Menschen sind dafür geschaffen. Auf manche wirkt eine solche Idylle heimelig, auf andere unheimlich. Was man mit Sicherheit sagen kann: Luigi Snozzi kam nie bis Niederhelfenschwil. Der Zersiedelungsgrad ist hoch, ebenso die Anzahl von «Durchgang verboten»- und «Privat»- Schildern. Es gibt erstaunlich viele Zäune der Marke Alpstein, auf vielfältige Arten frisierte Buchsbäume** und variantenreiche Hecken, hinter denen sich die Einfamilienhäuser verstecken. Übrigens: Die Einwohnerzahl von Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch liegt bei lediglich 2999. Kürzer zwar, aber dafür grösser: Das ist Niederhelfenschwil.
*mit einem stimmlos uvularen Frikativ am Ende ausgesprochen, gem. dem Internationalen Phonetischen Alphabet wie folgt:??an.'vair.pu?.?gw?n.g??.go.?ge. r?.??w?rn.?dro.bu?.??an.t?.'si.lio.?go.go.'go??
**Ein imposantes Exemplar gibt es auf meinem Instagram-Konto zu sehen. Und ein paar andere interessante Bilder, etwa von einem schönen Cordon bleu