• Oktober 2021

ICH WAR NOCH NIEMALS IN Neu York, Rüti ZH

«Ich war noch niemals in New York» heisst ein bekannter Schlager von Udo Jürgens, in dem es um die Fluchtfantasien eines Familienvaters geht, der nach dem Abendessen mal schnell Zigaretten holen will. Dabei kommt ihm die Idee, dass er doch gleich abhauen könnte. Einfach so. Einfach weg. Frau und Kind und den ganzen Alltagsmief hinter sich lassen. Zum Beispiel auf nach New York. Oder Hawaii. Oder in zerrissenen Jeans durch San Francisco stiefeln.

Wer hat nicht schon davon geträumt? Das Ende des Lieds bleibt offen. Der Mann holt die Fluppen, kehrt dann aber brav nach Hause zurück, wo ihm sogleich der piefige Alltag wie eine Bratpfanne übergezogen wird. Die Frau keift («Mann, wo bleibst du bloss, Dalli Dalli geht gleich los»). Die Sehnsucht schwindet, was bleibt, ist Resignation und Ohnmacht. Der Schlager endet mit einem latent manisch gesungenen «La la la lala lala la/La la la lala lala la»-Refrain, was auch immer dies andeuten mag.

Eine Sehnsuchtsgeschichte ist auch der Grund, weshalb man in der dörflich anmutenden Kleinstadt Rüti blaue Strassenschilder findet, auf denen «Neu York-Str.» geschrieben steht. Tatsächlich gibt es eine Verbindung zwischen der schmalen, ansteigenden Strasse, die diesen Namen trägt, und der Weltstadt. Der Grund ist ein Bauernhof, welchen man am Ende der Neu York-Strasse findet.

Der Bauer, der gerade die glockenbimmelnden Kühe und Kälber von der Weide zum Hof treibt, einen Stecken in der Hand, einen Hut auf dem Kopf, er sagt, es gäbe die eine Geschichte, und die gehe so: In den 1860er-Jahren schwappten die Legenden des Goldrausches und eines damit einhergehenden unermesslichen Reichtums von Amerika drüben auch bis Fägswil, einem zu Rüti gehörenden Weiler.

Ein junger Mann von dort wollte dem lockenden Ruf des Abenteuers folgen und über das grosse Meer fahren, um das noch grössere Glück zu finden. Doch der Vater des Jungen empfand keine Freude darüber, dass es seinen Stammhalter in die ferne Fremde zog. Wie hatte doch Goethe damals nur Jahre zuvor gedichtet? «Willst du immer weiter schweifen?/Sieh, das Gute liegt so nah./Lerne nur das Glück ergreifen, / Denn das Glück ist immer da.»

Also schlug der Vater einen Deal in diesem Sinne vor: Sollte der Sohn bleiben, so bekomme er einen Bauernhof mit allem Drum und Dran und Wäldern und Wiesen und vielerlei Getier spendiert. Der Sohn wog ab, entschied sich fürs Bleiben – und benannte als Fernwehschmerzenslinderung sein Gut nach jenem Ort, den er nie sehen würde: Neu York.

Heute markiert der Hof Neu York einen Aussenposten der sich mit Wohnsiedlungen an ihre Baulandgrenzen drängenden Gemeinde Rüti, die wächst und wächst, Schilder verkünden das baldige Erscheinen von neuen Eigentumswohnungen. Die Grenze zwischen Siedlungsgebiet und Landwirtschaftszone ist von eindrücklicher Deutlichkeit, markiert von viergeschossigen Wohnblöcken, die es nicht darauf anlegen, an Beauty Contests teilnehmen zu wollen.

Als liesse man die Wirklichkeit hinter sich, wandelt sich die Umgebung schlagartig beim Verlassen der Stadt, dem Überschreiten dieser Linie. Man betritt ein Idyll. Bauern sind am Heuen mit alten Bührer-Traktoren. Ein Geissbock schaut frech, die Äpfel hängen rot und schwer an den niedrigstämmigen Bäumen. Hinter dem Hof nur noch Wiese, Weiden, noch mehr Obstbäume, dann Wald und irgendwo hinter dem Wald folgt Wald (die Nachbargemeinde, die so heisst). Man wähnt sich nicht nur an einem anderen Ort, sondern auch in einer anderen, romantischeren und vielleicht besseren Zeit.

Sehnsucht, damals wie heute, das ist Neu York.

Technische Daten Rüti ZH: 12’599 Einwohner, 14 hauptberufliche Landwirtschaftsbetriebe (im Jahr 1985 waren es noch 33), 358 Kühe, 4 Schweine, 158 Schafe

Reisetipp ab Zürich mit Velo: via Pfannenstiel und Hombrechtikon, traumhafte Ecken und Kehren erwarten einen hinter Neu York, zurück z. B. via Uznach und Lachen. 101 km, 838 Hm

Zu Fuss: S-Bahn bis Fischenthal. Dann via Tannen; Hüttchopf; Alp Scheidegg; Sagenraintobel; Wald. Top: Das Cordon bleu auf Alp Scheidegg. 16 km; 687 Hm. Eine Wanderung, die Goethes Worte kräftig bekräftigt