• April 2021

ICH WAR NOCH NIEMALS IN Langenthal BE

Man sagt, Langenthal im «Oberaargou» sei so etwas wie Swissminiature, wenn jener Ort sich nicht auf Landes-Highlights spezialisieren würde, sondern im Kleinen einfach das ganze Grosse abbildete, denn Langenthal sei die eingekochte Schweiz, der Durchschnitt der Durchschnittlichkeit.

Man sagt auch, Langenthal sei deshalb ein beliebter Ort für Marketingspezialist*innen als Testgelände für neue Produkte. Funktionieren diese in Langenthal, dann funktionieren sie im ganzen Land. Man sagt zudem, an Langenthal sei vor allem etwas auffällig: seine Unauffälligkeit. Und immer wieder ein Thema ist der Rassismus, der wie überall im Land grassiert, schwelt und schwärt, hier aber scheints besonders normal zutage tritt; man erinnere sich etwa an den Streit um ein in Langenthal geplantes Minarett, welcher schliesslich das islamophobe Egerkinger Komitee dazu inspirierte, die Minarettinitiative vors Volk zu bringen (2009) und damit einen rechten Urnen-Blockbuster landete.

Aber Langenthal hat ein paar Dinge, die andere Ortschaften nicht bieten können. Trottoirs etwa, die so hoch sind, dass bei Höhenängstler*innen und Trittunsicheren der Puls hoch geht. Oder eine Pommes-frites-Fabrik (Kadi). Oder die «Dragons», ein Club, der sich der faszinierenden Sportart «Bowls» widmet, einer Art Sommer-Curling-Boccia-Mixtur mit schottischen Wurzeln. Oder ein Kunsthaus, in dem es etwas Interessantes zu sehen gibt.

Im oberen Geschoss des zentral gelegenen Museums für zeitgenössische Kunst wird derzeit eine Ausstellung mit dem Titel «H.o.Me – Heim für obsolete Medien» gezeigt. Der Künstler Flo Kaufmann hat mit Gästen die Räume in eine technologische Erinnerungskathedrale verwandelt, in Gedenken an einst brandaktuelle Technologien wie Super 8, VHS, CD, Schallplatte, Floppy-Disc. Waren diese Medien einst Träger von Daten, Filmen, Songs, Bildern, sind sie heute zu Erinnerungstriggern geworden. Ein Raum etwa ist dem Tonband gewidmet. Erinnert sich jemand daran? Die Tonbandkassette? Bandsalat? Mixtapes? Autoreverse?

Ein Haufen von Kassetten liegt auf dem Boden auf einem Teppich. Ein Abspielgerät auch. Also setze ich mich hin – und werde sogleich in mein Jugendzimmer gebeamt. Die Beziehung zur Tonbandkassette war innig, denn sie ermöglichte es dank der Aufnahmefunktion, nicht nur Musik zu konsumieren, sondern auch festzustellen, dass die Zusammenstellung von Songs in der richtigen Reihenfolge mehr war als deren blosse Summe. Als Twen kaufte ich auf dem Flohmarkt die ältesten und schönsten Kassetten. Nur war selbstverständlich das Magnetband dieser Preziosen nicht mehr auf der Höhe. Also öffnete ich mit einem Uhrenschraubenzieher die alte Kassette, entnahm das Band, öffnete auch eine hochwertige Neukassette (meist eine Maxell XL II-S), transplantierte mit konzentriert im Mundwinkel parkierter Zunge das neue Band ins alte Gehäuse – und hatte dann eine Kassette, die gut klang und auch noch gut aussah. Was wollte ich mehr? Sie bespielen natürlich! Und dann verschenken, meist an eine Frau, die ich mit diesem Mixtape zu beeindrucken versuchte (immer erfolglos, Männer sprachen eher darauf an).

Nicht alles der letzten Jahrzehnte kam mir in den Sinn, dort in Langenthal auf dem Boden sitzend, Kassetten in den Händen, vieles aber schon. Und als ich das Kunsthaus wieder verliess und über die Catwalkgleichen Trottoirs Richtung Bahnhof spazierte, war es, als wachte ich aus einem Traum auf. Die Erinnerung ist ein Ort, der einen Besuch lohnt – auch wenn die Frisuren dort noch immer sind, was sie waren: furchtbar.

Song zur Durchschnittlichkeit: «Middle Mass» von The Fall vom Album «Slates», 1981

Film mit Tonbandkassette als Hauptdarstellerin: «Guardians of the Galaxy», 2014

Rückkehrsehnsuchtsquotient: Nun ja, ich denke, es gibt in Langenthal für ambitionierte Hobbyfotograf*innen noch ein paar schöne Sujets! Vor allem auch in der Industriezone

Wakkerpreisfaktor: Langenthal gewann den prestigeträchtigen Preis im Jahr 2019. Man feierte den Anlass mit von der Stadt spendiertem Zvieri (Wurst und Brot) und «heissen Rhythmen der Band Samba Maria»