• Oktober 2022

ICH WAR NOCH NIEMALS IN INGENBOHL (SZ)

Auf dem Fussballfeld («Benützung nur mit Bewilligung»; «Kontrollen werden durchgeführt») weiden zwei Roboterrasenmäher, gemächlich ziehen sie ihre Bahnen. An einer Holzbeige hängt ausgebleicht ein Plakat («COVID-GESETZ: NEIN»). Ein Trampelpfad führt über eine Wiese, vorbei an einem grossen Birnenbaum, dann und wann fällt – begleitet von leisem Rascheln – eine Frucht durch das Laubwerk zu Boden, dumpf schlägt sie auf. Wespen tun sich an den im Gras faulenden Früchten gütlich. Ein Brunnen plätschert.

Im Hintergrund erhebt sich der Grosse Mythen, der Kleine Mythen, dazwischen macht sich der Zwüschet Mythen breit. Der Pfad über die Wiese ist Teil des Jakobswegs und führt schnurgerade zu einer kleinen, weiss getünchten Kapelle. Die im 17. Jahrhundert erbaute Kapelle ist der heiligen Jungfrau und Märtyrerin Apollonia von Alexandria gewidmet. Ihre Figur steht im Inneren des Gotteshäuschens: In der Rechten hält sie eine grosse Zange mit einem Zahn zwischen den Greifbacken, ihre Backen sind gebläht und rot, als plage sie Zahnweh. Nicht von ungefähr. Denn während der Christenverfolgung schlug man der Jungfrau Apollonia die Zähne aus. Und man drohte, sie zu verbrennen, sollte sie nicht dem Christenglauben entsagen, ein Scheiterhaufen wurde errichtet, angezündet. Daraufhin sei sie ihren Peinigern zuvorgekommen und aus eigenen Stücken auf den Scheiterhaufen gesprungen.

So ist es überliefert. Kirchlich wurde dies nicht als Selbstmord, sondern als Martyrium gewertet – einer Heiligsprechung stand später folglich nichts im Weg. Noch heute sollen den besonderen Umständen ihres Martyriums wegen Menschen mit Zahnschmerzen zu dieser Kleinstkapelle pilgern, denn Apollonia ist die Schutzpatronin gegen Zahnschmerzen – und seit dem Siegeszug der Zahnheilkunde auch der diesbezüglichen Ärzteschar. Doch die Kapelle wird nicht nur von an Zahnweh Leidenden aufgesucht: Jemand hat feinsäuberlich ein Hanfblatt in den weissen Verputz der alten Mauer geritzt, «Stay high» steht darunter.

Unweit der kleinen Kapelle wurde dieses Jahr ein Fest gefeiert. Man errichtete ein Haus, genauer ein Häuschen, aus braunem Holz und temporär: eine Toilette. Das Besondere: Sie verfügte über eine Schüssel mit integrierter Digitalwaage, denn das stille Örtchen war der Austragungsort des «Priisgeglä Schwyz», einem Wettkampf, bei dem es darum ging, den grössten Kothaufen in die Welt zu setzen. Man weiss: Der Kanton Schwyz war immer schon reich an gelebtem Brauchtum, doch diese Ausformung ist relativ neu, es war heuer erst die zweite Austragung. 1100 Besucher:innen soll das «Priisgeglä Schwyz» nach Ingenbohl gelockt haben, für Stimmung auf dem Festgelände sorgte DJ Nitroschnitzel.

Gewonnen übrigens hat der Kronenberg Alex aus Willisau mit 262 Gramm. Die Kistler Ronja aus Siebnen – einzige Frau im Wettkampf – wurde gute Sechste (188g). Letzter wurde einer aus Fribourg (6g). Die ersten drei Ränge wurden mit Kränzen ausgezeichnet. Das Wettkampfklo wurde nach dem Fest wieder abgebaut. In einem Jahr wird der neue Sieger ermittelt. Kranzkoter Kronenberg hat angekündigt, seinen Titel unbedingt verteidigen zu wollen. Und die Zeit, sie vergeht derweil, die Birnen fallen, die Rasenmäher drehen ihre Runden, die Figur der Apollonia hält die grosse Zange mit dem Zahn in ihrer Rechten. Und über allem wachen die Mythen, alle beide und auch der dazwischen. Der Ort der Stille und das stille Örtchen, das Heilige und das Profane, im Kanton Schwyz kommt alles nah zusammen.