• Dezember 2021

ICH WAR NOCH NIEMALS am Ende der Welt

Es begann mit einem kleinen Ort im Kanton Aargau. Er heisst Oberwil-Lieli. Ich fuhr mit dem Velo hin, im September vor einem Jahr, aus Neugier, wollte herausfinden, wie es dort ausschaut, wo ein berühmter Politiker es gemütlich findet, denn er selbst gilt als eher ungemütlich. Dieser Diskrepanz wollte ich nachspüren. Und es wurde ein in der Tat interessanter Ausflug, bei dem ich viel sah und lernte und, justament als aus dem Kirchturm das Mittagsgeläut erklang, die Güggeli-Oase entdeckte: eine auf Poulet spezialisierte Beiz, wo es das gerupfte Federvieh in vielen würzigen Varianten gibt, etwa à la «Bora Bora». So fing alles an: Ich suchte Andreas Glarners Paradies und fand Bora Bora.

Auf Oberwil-Lieli folgten Woche für Woche mehr als sechzig weitere Exkursionen an Orte, an denen ich zuvor noch nie gewesen war. Manche dieser Reisen brachten mich in entlegene Winkel des Landes, andere in den Bubble-Tea-Laden bei mir um die Ecke. Gemein war allen Ausflügen, dass ich immer wieder über Dinge stolperte, von denen ich bis dahin nichts gewusst hatte. Es schien mir manchmal: je absichtsloser eine Reise, desto mehr gab es zu entdecken.

Ich füllte auch Bildungslücken, besuchte touristische Pflichtorte wie den Rheinfall, das Matterhorn oder den grenzfernsten Punkt unseres Landes. Ich war auch im Arschwald (GL) und am schwarzgefrorenen Obersee (einer der schönsten Momente meines Lebens, wenigstens bezüglich Naturerfahrung). Ich scheiterte jämmerlich an der Besteigung des Rotzbergs (NW). Fuhr im Postauto der Linie 682 in 8:45 Stunden über vier Alpenpässe und zählte, wie oft der Chauffeur das «Dü-Da-Do»-Dreiklanghorn erklingen liess (47-mal). Ich stand am Grab von Rilke (Raron VS) und an jenem von Carl Spitteler (Friedental LU), stieg am «Der Besuch der alten Dame»-Bahnhof aus dem Zug (Ins BE), pilgerte zu einer glutenfreien Bäckerei in Urnäsch (AR), huldigte der grössten finnischen Erfindung der Neuzeit im aargauischen Leibstadt (Nordic-Walking-Stöcke). In Beromünster (LU) begrub ich am Fusse einer krummen Rosskastanie in einer Waldkathedrale meine Erinnerungen an den Radiosender DRS 3, in Au (SG) bestaunte ich den hundskegelgleichen Verkehrskreisel, der wohl zu Recht als der hässlichste seiner Art gilt. Ich verglich die Topografie des Humors mit jener der Landschaft auf dem Witzweg im Appenzellerland, bestaunte eine Hochhausstadt, welche Künstler für Fische in einem Weiher im Weiertal (ZH) errichteten, kam hinter das Geheimnis, das sich hinter dem Begriff «faire la totale» verbirgt (Gruyères FR) – und selbstverständlich war ich auch im Ort mit dem längsten Einwortnamen der Schweiz (Niederhelfenschwil SG).

Ich sah viel Schönes, ich sah viel Elendes, Kurioses auch; sah Stadt, sah Land, sah Fluss. Blickte auf weite Seen und verlor den Durchblick in Wäldern vor lauter Bäumen (Grand Risoud VD). Ich kam in unserem kleinen Land herum, welches sich als ganz und gar nicht so klein herausstellte, und führte ein Leben, wie ich es mir später als Rentner mit einem Generalabonnement im Sack vorstellen könnte: unentwegt auf Achse.

Und nun also kam ich ans Ende der Welt. Man findet dieses Ende bei Engelberg im impflahmen Kanton Obwalden, ganz hinten im Horbistal. Es gibt eine Kapelle dort, eine gemütliche Beiz, eine Handvoll Häuser, Ställe, dann endet der Weg, und man erblickt nur noch die steil sich in den Himmel erhebenden Wände aus Gestein. Und hier kommt auch diese Kolumnenserie zu ihrem Abschluss, obwohl es noch viele Orte gibt, an denen ich noch nie gewesen bin, sei es der Wald, in dem bleibt, was dort geschieht (Pfynwald VS), sei es das scheints frankensteinige Froschmuseum in Estavayer-le-Lac (FR) oder die alte Artillerie-Festung im Crestawald (GR), deren Kanonen Frauennamen tragen (Silvia, Lucrezia). Es ist Schluss.

Dies ist einerseits betrüblich, andererseits weiss man ja: Nichts endet wirklich. Auch in Obwalden ist die Welt nicht de facto finito. Hinterm Horizont gehts weiter – und ebenso geht es an dieser Stelle im neuen Jahr weiter, denn 2022 wird alles anders, aber alles bleibt auch gleich.

PS: Wie es sich für das Ende einer Serie gehört, folgt nun die Abspannmusik. «The End of the World» in der Version von Sharon Van Etten. Gerne laut.