ICH WAR NOCH NIEMALS IN der Verrerie La Rochère
Es war nicht versprochenes Spektakel, das mich dazu veranlasste, meine Herbstferien im Osten Frankreichs zu verbringen. Ganz im Gegenteil. Freunde besitzen dort ein Haus. Und sie sind grosszügig. Und gastfreundlich. Und tolle Menschen obendrein.
Zudem hatte ich gehört: Man kann dort wunderbar Ferien machen, wenn man damit zufrieden ist, ein bisschen mit dem Rennvelo über die Berge zu fahren (etwa auf den Col du Paradis, 330 m ü. M.), abends ein paar Teller Boeuf Bourguignon vom ortstypischen Charolais-Rind zu mampfen oder nachmittags im Garten unter der Trauerweide sich die Herbstsonne aufs Gesicht scheinen zu lassen, ein Buch in den Händen – oder ein Glas Weisswein.
Und ebendieses Glas Wein erinnerte mich an zu Hause; nicht der Wein, sondern das Glas. Ein kleines, handliches Ding, einen knappen Deziliter fassend, mit feinen Rippen an der Aussenseite. Seit ich mich erinnern kann, ist es exakt dieses kleine Glas, aus dem ich daheim meinen Espresso trinke, jeden Morgen, manchmal früher, manchmal später, aber immer ohne Zucker und ohne diese eklige Milch. Ich hatte es vor hundert Jahren bei Manufactum entdeckt, * nicht online, sondern im Warenhaus in München, seitdem ist es ein fixer Bestandteil meines Lebens.
Aus keinem anderen Gefäss schmeckt mir der Kaffee besser – und dank der Rippen verbrennt man sich die Finger nicht. Denn es ist ein anderes, urtümlicheres Trinkerlebnis, wenn man ein Glas umfassen kann, als wenn man eine Tasse distanziert an einem Henkel zum Mund führt, womöglich noch mit schnöselig abgespreiztem Kleinfinger. Aber eben: Auch Weisswein geht gut aus diesem Glas, sehr gut sogar.
Als ich meine Ferienfreunde fragte, ob sie die Gläser auch von Manufactum hätten, da lächelten sie amüsiert. Sie hätten sie aus dem Nachbardorf. Dort sei die Glaserei, in der sie hergestellt würden, die Verrerie La Rochère. Nichts wie hin!
Die Glaserei liegt etwas ausserhalb eines kleinen Ortes namens Passavant-la-Rochère und bildet mit seiner Fabrikantenvilla und den kleinen Arbeiterhäuschen einen Weiler für sich. Ringsherum erstreckt sich ein grosser, tiefer und zur Verirrung einladender Wald, durch den sich ein Fluss mit dem schönen Namen Morte-Eau schlängelt. Ein Grund, weshalb die Glaserei steht, wo sie steht: Das Holz, mit dem man einst die Schmelzöfen betrieb, war in rauen Mengen vorhanden.
Besucherinnen und Besucher können zu gewissen Stunden die Schauglasbläserei bestaunen. Auch wenn Mundgeblasenes bei La Rochère nur noch einen Bruchteil der Produktion ausmacht (mein Glas ist ebenfalls ein maschinell gefertigtes Pressglas), so vermittelt dieser Blick in die Fabrik doch eine Idee des Ganzen: die glühenden Öfen, die Hitze, die Schwere der Arbeit, das archaisch anmutende Werkzeug, das Handwerk an sich. Und auch für die Kinder ein lohnender Besuch: Mal etwas sehen, das älter ist als das Internet – die Historie von La Rochère reicht ins Jahr 1475 zurück, als man für Adlige fertigte, etwa Fensterscheiben. Heute ist Glas ein demokratisches Gut und massiv unter Kostendruck, weshalb man hier bei La Rochère stolz ist, dass es die Fabrik überhaupt noch gibt. Und nicht nur Tischware fertigt man, sondern auch Glasbausteine, wie etwa jene für Le Corbusiers Bau «Cité de Refuge» in Paris (1933).
Auch ich leistete bei der Visite meinen Beitrag zur Standortsicherung in diesem strukturschwachen Teil des Landes und kaufte im Fabrikladen zwei Kartons dieser genialen Gläser mit dem schönen Namen «Zinc». Die gibt es übrigens auch in einer Zwei-Deziliter-Version. Für den Weisswein unter der Trauerweide vor dem Haus im Osten Frankreichs fast noch die bessere Wahl.
*unmöglich: Besagtes Trinkglas gibt es erst seit 2006, entworfen vom Designer Fabrice Gibilaro.
Glas «Zinc»: im Fabrikladen 4.20 Euro. Bei Manufactum 8.50 Franken. Im Einrichtungsgeschäft Barbara Wick in Zürich 7 Franken. Bei Kitchener in Bern 6 Franken
La Rochère (100 Angestellte) wurde dieses Jahr von der Familie Giraud an die Familie Tourres verkauft, die bereits die Verrerie Waltersperger (30 Angestellte) besitzt (spezialisiert auf Parfumflacons, z. B. für Chanel)