ICH WAR NOCH NIEMALS IN DER Länggasse, Bern
Man weiss es: Google weiss alles. «Länggasse is a hip, bohemian area. Students and creatives frequent arts spaces with trendy bars, and intimate jazz and blues clubs. Bookshops and eco-focused clothing stores sit among casual restaurants serving Swiss food, tapas, and pizza. Cycling along the nearby river is a popular pastime.» Das sounds gut, also: klingt wonderful und irgendwie nach San Francisco. Aber ist dem auch so?
Einer, der es wissen muss, ist Christoph Simon. Der Kabarettist und Schriftsteller lebt in der Länggasse, im ersten Stock eines nicht sonderlich hip daherkommenden Wohnblocks, aber praktischerweise mit (seriösem) Massagestudio im Erdgeschoss und vom Balkon mit Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau, wenn sich die drei nicht gerade mit Nebel-, Dunstoder Saharastaub-Burka verhüllen.
Dass sich ein Tagestourist wie ich für die Länggasse interessiert, irritiert Christoph Simon ein wenig. «Du bist im falschen Quartier und sprichst zudem mit der falschen Person.» Bern-Pilger wollten doch das Bundeshaus mit seinen hohen Tieren sehen, den Bärengraben mit den zähnefletschenden Kreaturen, den pädagogisch gehaltvollen Kindlifresserbrunnen – die Offenbarungen des Offensichtlichen. Und zudem wohne er erst zwölf Jahre hier, zugezogen aus dem Berner Oberland, es gebe andere, die seien Länggasser*innen seit der Eiszeit.
Aber Christoph Simon hat als Local Guide einen entscheidenden Vorteil: Er hat Zeit. Denn als Kabarettist hat er gerade nicht viel zu tun, ausser ein wenig mit den Ämtern zu ringen, dass vielleicht doch etwas Ausfallsentschädigung flösse.
Ein Jahr ist es her, da feierte er mit seinem Bühnenprogramm «Der Suboptimist» Premiere. Aber statt Standing Ovations gab es in der Folge geschlossene Häuser.
Er, der einst unser Land im Literatenkleinkrieg zu Klagenfurt vertreten hatte und den Salzburger Stier erhielt, der auch schon bei Aeschbacher im Fernsehen war, als Aeschbacher noch im Fernsehen war, er hat es sich in den vergangenen Monaten der verordneten Stille auf dem blauen Sofa in seiner Loge bequem gemacht und Lyrik geschrieben. Es seien «Gedichte für Menschen, die Gedichte hassen», meint er. Zudem hat er auch noch ein Büchlein verfasst – schlank wie ein Skispringer und mit dem schlichten Titel «Die Dinge daheim» –, welches sich mit jenen Gegenständen beschäftigt, die in jedem Haushalt vorkommen; quasi eine Meditation über das Wesen der Kleinigkeiten, die uns umgeben.
Beispiel: «Ein Grund für die ausserordentliche Stellung, die die Schere im Haushalt innehat, war sicher, dass sie es auf rätselhafte Weise schaffte, nie dort wiedergefunden zu werden, wo sie zuletzt abgelegt worden war.»
Christoph Simons Schaffen ist ein wundersames Amalgam aus Humor und Melancholie, aus Bescheidenheit und Ehrlichkeit, aus kleiner Tragik und nicht viel grösserer Hoffnung. Eine Mixtur, rarer denn ein Metall der Seltenen Erden wie etwa Dysprosium, vor allem auch im dichtertechnisch gerne gar gern bedeutungsschweren Bern.
Nun wartet er, so wie alle anderen Kulturschaffenden, bis sie wieder tun dürfen, was sie wollen und können. Stand-up auf Stand-by. Und am liebsten wartet er im Gehen, also spazierend, aber nicht zu weit seine Bahnen ziehend, nur durchs Quartier, die Länggass eben, die ihm Welt genug ist, weil es dort alles gibt, was der Mensch zum Leben braucht, und obendrein wenig Störendes.
Übrigens lebte auch Paul Nizon in der Länggass, bis er auszog, um der Welt zu zeigen, wo der literarische Hammer hängt. Er schrieb einst in diesem Magazin, die Länggass sei grösser und bedeutsamer gewesen als New York und Tokio zusammen. Hat Nizon recht? Hat Google recht? Folgen wir doch einfach Christoph Simon, der sich gerade von seinem Schreibsofa erhebt und sich daranmacht, in den Flur zu treten. Erste Station seiner Spazierroutine wird ein Ort sein, an dem es immer ein paar Buchstaben oder Sätze gibt, die niemand mehr will: das Bücherbrockenhaus. Christoph Simon setzt die Kappe auf den Kopf, zieht die Wohnungstüre hinter sich zu, geht die Treppe hinunter und aus dem Haus. Nichts wie hinterher! (Fortsetzung folgt)