ICH WAR NOCH NIEMALS IN Baldingen AG
Rosemarie hiess die Serviertochter des Restaurants zur Rose in Baldingen, damals, als man noch Serviertochter sagte, oder: «Frolein, ich bekomme eine Stange!» Die Rose war mit seiner Rosemarie im ganzen Land Gesprächsstoff, im Herbst des Jahres 1968, inklusive Foto im «Blick», denn in dem schwer katholischen Dorf war die einundzwanzigjährige Service-Bedienstete ein Skandal, aus der sündigen Stadt Zürich kommend, bereits einmal geschieden, vor allem aber eingefleischte Minirockträgerin.
Einen dieser neumodischen Miniröcke hatte man in Baldingen bis dahin noch nicht gesehen, und der hatte im Dorf auch nichts zu suchen. Zudem: Der Wirt der Rose war ein Zugezogener und der einzige Protestant. Also erliess der Gemeinderat wegen der «unschicklichen» und «unsittlichen» Kleidung Rosemaries ein Verhüllungsgebot, denn das Tragen eines Minirocks grenzte an den «verbotenen Tatbestand des Animierens», wie im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 15. Oktober festgehalten wurde (Funfact: Das ist auch der Geburtstag von Michel Foucault, dem legendären Sexualitätskontrolldiskursaufzeiger). Ansonsten würde das Restaurant kurzerhand geschlossen.
Allerdings bescherte die landesweite Berichterstattung über Rosemarie und ihren kurzen Rock der Rose Besucherrekorde, der Umsatz verdreifachte sich gar. «Beiz dank dem Mini-Streit bumsvoll!», titelte der «Blick» launig.
Heute welkt der Schnörkel-Schriftzug «Restaurant zur Rose». Die Beiz ist geschlossen, so wie alle anderen Restaurants des Landes, aber bei der Rose ist es nicht wegen Corona, sondern länger schon; zudem sieht es nicht so aus, als würde die Beizentüre in Baldingen je wieder aufgesperrt. Offen aber ist die Türe auf der anderen Strassenseite, jene der Kirche, die auch Heimat für den weitherum gern gehörten Männerchor Baldingen-Böbikon ist und vom Architekten Karl Moser gezeichnet worden ist (wie etwa auch das Kunsthaus Zürich oder der Basel Bad Bf). Der Sakralbau ist – insbesondere auch im Verhältnis zur Kleinheit des Dorfes – von recht stattlicher Grösse, reich geschmückt im Innenraum und mit üppiger floraler Deckenmalerei versehen. Gewidmet ist die Kirche der heiligen Agatha von Catania, welche im dritten Jahrhundert nach Christus Opfer von grässlicher Folter und Mord wurde, da sie die Avancen und den Heiratsantrag des heidnischen Statthalters abgelehnt hatte.
Nach dem Mini-Krieg anno 1968 wurde es bald wieder ruhiger in Baldingen. Im Jahr 1993 gab es noch einmal einen Zeitungsbericht, in dem von Zwist unter Nachbarn berichtet wurde, der sich ob zwei schnatternden Gänsen namens Strolch und Candy entzündet hatte. Bis vors Bezirksgericht zogen die Gestörten. Seither aber scheint es friedlich zu sein in Baldingen. Im letzten Jahr gingen zwei Seelen, drei neue wurden geboren, sechzehn Menschen verzogen, sechzehn kamen aus der Ferne und liessen sich nieder. 267 Einwohner sind es, sagt die Statistik. In Baldingen regiert beschauliche Beständigkeit. Umtriebe gibt es nur am Waldrand, wo der klotzige Wasserturm steht (siehe Bild). Dort wurden unlängst Bauprofile errichtet, denn man will schon bald den Wasser-zu einem Aussichtsturm umfunktionieren. Von 28 Metern Höhe aus sollen Ausflügler*innen den Blick dann schweifen lassen können.
Man sagt übrigens, dass man hier gerne behaupte, glaube, vermute, ja dass man teils auch der klaren Ansicht sei, bei Baldingen handle es sich um den schönsten aller schönen Orte im ganzen Kanton Aargau. So etwas ist schwer zu beweisen, absolut und als Tatsache, aber angesichts der privilegierten Lage auf den Jurahöhen, den lohnenden Blicken in die Weite, der üppigen Natur und den vielen wie beschwipst zwitschernden Vögeln in den wilden Hecken und Feldgehölzen könnte dem im Fall in der Tat durchaus eventuell und vielleicht sicher sogar so sein.
Paradox zum Minirockverbot Das Verhüllungsverbot wurde am 7. März mit 59,4 Prozent angenommen
Song zum Thema «Mini Skirt» von Esquivel! (findet sich auch auf dem «Mein Name ist Eugen»-Soundtrack)
Ein Must Ausgeschildeter Rundweg mit betörendem Weitblick, Länge ca. 6 km. Empfohlen: Abstecher zum alten Steinbruch Musital (ideale Kulisse für ein Musical mit Westernhintergrund)