ICH WAR NOCH NIEMALS IM Pirelli HangarBicocca, Mailand
Ich bin frisch verliebt. Und das ist, ich kann es sagen, ein ziemlich schönes Gefühl: Ein Frühling im Herbst. Eigentlich kenne ich meine neue Liebe bereits länger, seit Jahren schon sind wir uns immer wieder mal begegnet, aber irgendwie hatte es nie gefunkt. Sie erschien mir zu kühl, zu distanziert, zu gross gewachsen, zu hochnäsig. Aber wie so oft: Wenn man sich einmal etwas besser kennen lernt, man ins Gespräch kommt, man Vorurteile abbaut, dann können sich die Dinge grundlegend ändern.
Die Liebe, sie heisst Mailand. Es ist zwar eine Fernbeziehung, aber ich sehe sie, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Und ich bin schnell bei ihr. Drei Stunden und ein paar Minutenkrümel sind es mit dem Zug, schon bin ich in ihrem Herzen.
Natürlich verklärt eine Infektion mit Liebe vieles, trübt den kritischen Blick, schärft aber die Empfindsamkeit. Vielleicht liegt es ja daran, dass der milde Herbst so gut zu ihr passt, sie so wunderbar aussehen lässt. Oder vielleicht auch daran, dass ich sie und ihre Geschichten einfach noch nicht gut kenne und nun entdecken darf, Stück für Stück.
Und es gibt noch viel zu sehen. Ich war bis vor kurzem etwa noch nie im Parco Sempione und hab den wie ein Origamigebilde gefalteten Pavillon von Ico Parisi aus dem Jahr 1954 bestaunt. Auf dem Torre Branca (1933) von Gio Ponti war ich auch noch nie. Überhaupt: Die Architektur! Man muss nichts anderes tun, als einfach durch die Strassen zu spazieren und die Augen auf die Gebäude zu richten. Das Mass an Schönheit, welches einem auf Schritt und Tritt begegnet, es ist übervoll. Vielleicht bin ich coronabedingt auch einfach grossstadtmässig ausgehungert und geflasht vom unschlagbaren Erreichbarkeit-im-Verhältnis-zur-Grösse-Parameter dieser Stadt. Was weiss ich, es ist ja auch egal – wenn man verliebt ist, ist die Ratio arg rationiert.
Und ich war noch niemals zuvor im Pirelli Hangar Bicocca, einem Industriekomplex, welcher in ein Museum umgewandelt wurde. Zurzeit zeigt der HangarBicocca eine ziemlich grosse Ausstellung von Maurizio Cattelan, die auch sehr klein ist. Bloss drei Arbeiten sind zu sehen, aber eine jede dieser Arbeiten nimmt ihren Platz ein, beispielsweise «Ghosts»: Tausende ausgestopfte Tauben blicken auf einen herab, während man durch die leeren, dunklen Industriehallen geht, in denen früher Eisenbahnwaggons hergestellt wurden. Sie gurren nicht, sie wollen keine Krumen fressen, sie sind ja tot, aber trotzdem thronen sie über einem, lauernd, was durchaus beklemmende Momente beschert. Bis man am Ende auf einen gewaltig hohen Raum stösst, darin die Arbeit «Blind»: Ein schwarzer Monolith, aus dem sich am oberen Ende die Umrisse eines Flugzeugs herausbilden.
Ein Monument für 9/11? Cattelans Version eines Kreuzes? Ich bin mir jeweils nicht sicher, wie ich über die Kunst von Cattelan denken soll. Ob diese stete Provokation und dieser manchmal beinahe pennälerhafte Humor mich nerven… oder meine Nerven in einer klugen Art aktivieren.
Der ehemalige Hangar-Kurator Andrea Lissoni sagte einst: «Ein Museum für zeitgenössische Kunst ist ein Ort für unerwartete Begegnungen. Es ist wie auf einer Pizza.» Das fand ich eine sehr, sehr gute Beschreibung. Wie auf einer Pizza! Aber als ich den zweiten Satz zum zweiten Mal las, sah ich, dass Lissoni gar nicht Pizza gesagt hatte, sondern Piazza. Trotzdem hat er recht, irgendwie.
Für mich aber ist der HangarBicocca nichts weiter als eine Sardelle auf der gewaltigen Pizza, die Mailand darstellt. Und die mir unglaublich gut schmeckt, auch wenn ich in Mailand bisher noch nie eine Pizza gegessen habe; und dies wohl auch nie tun werde.
Kunsttipp: Der unabhängige Ausstellungsraum Assab One in einer alten Druckerei. Mit viel Industriecharme wirkt der Ort wie der kleine, wilde Bruder des Pirelli-Monsters; assab-one.org
Restauranttipp: Rovello 18, Via Tivoli 2, krass gut: Peperoni Tonnati (15 Euro); Antica Trattoria della Pesa, Viale Pasubio 10, krass gut: der Risotto (20 Euro), oder Manzo in Salsa Verde (15 Euro), oder…
Architekturführertipp: «Milan» von Carlo Berizzi, DOM publishers, Berlin, in Englisch oder Italienisch