• November 2021

ICH WAR NOCH NIEMALS AUF EINEM OPEN MIN.D

Einer meiner Vorgesetzten sagte einst, als ich ihn fragte, über was zu schreiben sich als Journalist denn lohne: «Schreib über das, was dein Herz bewegt. Schreib über das, was du liebst… oder zu lieben gedenkst.» Diesem Ratschlag möchte ich an dieser Stelle Folge leisten: Es geht um ein Rennvelo.

Kurze Rückblende: Vor zweieinhalb Jahren erfüllte ich mir einen lang gehegten und in seiner Umsetzung von langer Hand geplanten Wunsch, kaufte ein Rennrad aus Titan, handgemacht in den USA, ein Traum, der wahr wurde. Mir waren die diversen Formeln für die ideale Anzahl von Fahrrädern (A+1; T-1*) bekannt, aber mit dem einen Ding aus Titan würde ich alle Formeln aushebeln und bis ans Ende meiner Tage glücklich sein. So dachte ich – bis ich vor ein paar Wochen in einem Ladengeschäft das OPEN MIN.D sah. Und mir vor Augen geführt wurde, dass ich für die Monogamie wohl doch nicht geschaffen bin, wenigstens nicht in Zweirad-Angelegenheiten.

«Working hard to stay small» lautet das Motto von OPEN, einer Firma, die vor zehn Jahren vom Schweizer Andy Kessler und dem Holländer Gérard Vroomen gegründet wurde. Beide blickten damals auf viele Jahre in der Fahrradindustrie zurück, Kessler als CEO von BMC, Vroomen als Co-Gründer von Cervélo. Einer der Antriebe für den damaligen Schnitt: Man wollte wieder dort leben, wo es schön ist – und nicht dort, wo es die Industrie von einem verlangte. Deshalb ist der Firmensitz in Basel, wo Kessler mit seiner Familie zu Hause ist.

So richtig bekannt wurde OPEN mit Gravelbikes. In diesem prosperierenden und in den letzten Jahren auch von der Grossindustrie entdeckten und beackerten Sektor waren Kessler und Vroomen Pioniere, boten als Erste leichte Rahmen aus Karbon und die technischen Möglichkeiten, mit diversen Laufradgrössen unterwegs zu sein. Das Modell U.P. wurde alsbald zum Mass aller Dinge für das schnelle Vorankommen auf unbefestigten Wegen und Strassen.

Doch die Liebe zum klassischen Strassenrennvelo bewog Kessler und Vroomen, im letzten Jahr auch ein solches Modell zu lancieren. Sie nannten es MIN.D (für «MINimal Design») und es verdeutlicht nochmals die Philosophie von OPEN: Sie konstruieren genau die Räder, welche sie selber gerne fahren möchten. Und nur die.

Nun hatte ich Gelegenheit, ein OPEN MIN.D Probe zu fahren (gute Velogeschäfte bieten solchen Service, schon deshalb sollte man Bikes nicht im Internet kaufen). Und was soll ich sagen? Ich liebe dieses Ding. Einerseits seines Aussehens, der klaren Linien, seines Minimalismus wegen. Andererseits fährt es sich unglaublich gut. Geschwindigkeit und Komfort müssen kein Widerspruch sein. Nach einer Stunde im Sattel war für mich die Sache klar, oder wie man dort sagt, wo ich herkomme: Der Mist war geführt.

Als ich nach der Ausfahrt mit dem OPEN MIN.D daheim aufkreuzte, runzelte meine Frau die Stirn. Schnell sagte ich: «Es schläft nur eine Nacht bei uns! Ich bring es morgen zurück!» – «Hast du nicht gesagt, dass du mit deinem Titan-Ding am Ende einer Suche angekommen seist? Erwähntest du nicht, das sei wie damals bei Artus und dem Heiligen Gral gewesen? Hattest du nicht gar geschworen?» Da sagte ich: «Ja, ich schwor! Aber ich hatte die Finger hinter dem Rücken gekreuzt.»

Zum Glück traf ich damals diese kluge Vorsichtsmassnahme, denn mein Herz saftet beim Gedanken an das OPEN MIN.D. Die Saison heuer ist vorbei, eine derzeitige Anschaffung wäre dumm. Aber ich werde den Winter über damit verbringen, an das OPEN MIN.D zu denken. Und wenn der Frühling kommt, dann kommt der Frühling – mit all seinen blühenden Überraschungen, die er mit sich zu bringen pflegt.

Song: «Pure Vernunft darf niemals siegen» von Tocotronic vom gleichnamigen Album, 2005 *

Die Anzahl Fahrräder, die man besitzen soll, kann, muss: A+1 = die derzeitige Anzahl (A) plus einfach immer noch eins. T–1 = eines weniger, als es Partner:in zur angedrohten Trennung (T) treibt

OPEN gibt es nur im Fachhandel. BS: OBST&GEMÜSE, Kasernenstr. 32; BE: TacTac Cycling, Gotthelfstr. 31; ZH: Backyard, Alfred-Escher-Str. 25