ICH WAR NOCH NIEMALS AUF DER Linie 682
Pünktlich um 9.25 Uhr fährt das Postauto der Linie 682 beim Bahnhof in Meiringen los, passiert das Denkmal des Literaten Arthur Conan Doyle, schon bald ertönt ein erstes Mal das berühmte Dreiklanghorn. Unser Ziel: die Grimsel, auf der wir eine Stunde später ankommen. Aber damit hat der Pass-Spass erst begonnen, denn die Linie 682 ist nicht ein x-beliebiger Kurs, sondern bietet die längste Postautofahrt der Schweiz – und die kurvigste und bergigste obendrein. Ohne Umsteigen von der Grimsel zum Nufenen zum Gotthard zum Susten, dann zurück nach Meiringen.
Auf dem Grimselpass allerdings gibt es nichts zu sehen, der Nebel macht auf zäh, auch im Murmeltierpark ist tote Hose. Und nach der Kaffeepause steigen nur noch zwei der Fahrgäste zurück in den Bus: ein Rentner aus dem Welschland sowie ein Rentner in spe: ich. Die anderen haben sich unterwegs verdünnisiert, zumeist Menschen mit Wanderschuhen an den Füssen und dürftigem Sitzleder. Immer wieder steigen Fahrgäste zu, die irgendwann wieder aussteigen, einmal eine ganze Schulklasse, die schulbuchmässig auf jedes «Dü-Da-Do» der Dreiklanghupe mit Echogesang antwortet.
Und auf einem Abschnitt habe ich ein Paar im Rücken, genauer ist es auf der Grimselstrecke, als der Bus auf die alte Strasse aus dem 19. Jahrhundert schwenkt, der Abgrund jäh und nah ist und das Geländer mehr Schmuck als Schutz scheint. Die beiden reden frei heraus, was ich bloss denke («hoffentlich versagen die Bremsen nicht»; «der fährt ziemlich rassig, oder?»; «zum Glück hab ich heute kein Chicken Tikka Masala gefrühstückt»).
Ängste laut auszusprechen, ist beruhigend, allerdings wohl nur für die Sprechenden. Doch ich vertraue dem Profi, dem Alleinchauffeur, der wohldosiert mit Witzchen gewürzte Informationen über das Mikrofon an uns Fahrgäste weitergibt, während er wacker an seinem grossen Lenkrad dreht; an Kurven herrscht kein Mangel.
Es geht vom Grimselpass wieder hinunter und dann wieder hinauf zum Nufenen, dann wieder runter nach Airolo, wo man hoch droben am Hang schon die Gotthardschlaufen in Beton sehen kann, die wir nach dem Mittagshalt in Airolo (das Ristorante Forni beim Bahnhof sei empfohlen) befahren. Und schon sind wir in Andermatt (nur kurzer Halt, zum Glück, ist ja keine Augenweide) und bald unterwegs zum Susten, wo nur ein einzelner Gümmeler unterwegs ist, bei wenig verheissungsvollem Wetter. Als wir ihn passieren, sehe ich sein Gesicht: Es ist entstellt. Er scheint vor Anstrengung fast vom Rad zu fallen, und da fällt mir ein, dass ich den Susten mit dem Rennvelo noch nie gefahren bin. Doch als ich aus dem regenschlierenverzierten Fenster des Postautos ins Tal und dann wieder zu den in den Wolken steckenden Gipfeln schaue, die Strasse wie ein gnadenloser Strich dazwischen, da denke ich bei mir, dass man nicht alles im Leben gemacht haben muss.
Beim Steingletscher (siehe Bild) gibts den letzten Zwischenstopp. Der Regen treibt mich ins Restaurant, wo sich eine leise Müdigkeit zu mir gesellt. Ich denke über das Wesen des Postautos nach. Es war in meiner Kindheit mehr denn ein Transportmittel. Es war auch ein Sozialreaktor. Und eine Fluchtkapsel. Die Verbindung zur Aussenwelt. Wie schrieb Paul Nizon? «Fragt man mich, was mir Heimat bedeutet, sage ich Kindheit.» Das Postauto ist ein Stück Heimat. Die gelbe Farbe. Das Dreiklanghorn. So denke ich, bis die Müdigkeit mich anstupst: «Fertig mit der Rührseligkeit, die Fahrt geht weiter», murmelt sie.
Kurz nach sechs sind wir wieder in Meiringen. Als ich dort morgens ins Postauto stieg, dudelte im Radio «Take The Long Way Home» von Supertramp. Als ich abends am selben Ort wieder aussteige, habe ich bloss noch Druck auf den Ohren. Und mir ist, als hätte der Tag gar nicht stattgefunden. Es ist eher so, als käme ich aus dem Kino, aus einem Film von Christopher Nolan.
Vielleicht waren vier Pässe zu viel für einen Tag. Aber manchmal ist zu viel genau das Richtige.
Reisezeit (mit Pausen): 8:45 Stunden. Zurückgelegte Distanz: 182 Kilometer. Höhenmeter rauf und runter: 10366. Betätigung des Dreiklanghorns durch Chauffeur: 47-mal