• September 2021

ICH WAR NOCH NIEMALS am Rheinfall

Eigentlich wollte ich nach Moskau reisen, zum Moskau im nahen Osten, Kanton Schaffhausen, denn so heisst ein Ortsteil von Ramsen, an der deutschen Grenze gelegen und vor allem aus Tankstellen bestehend. Ich sass bereits im Zug, machte mich schlau, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mein geschätzter Kollege Thomas Widmer hatte im Frühling bereits alles über Moskau geschrieben, was es über Moskau zu schreiben gibt («Das Magazin» N°14). Enttäuscht über die Sinnlosigkeit meiner angetretenen Reise sass ich nicht ohne Selbstmitleid im Zug, schaute aus dem Fenster, just als wir eine Brücke überquerten und ich etwas erblickte in der Morgensonne, was ich zuvor noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte, imposant auch aus der Ferne: den Rheinfall.

Es gibt sie noch, die Dinge, weitbekannt, die an einem vorbeigingen, die man auf keiner Schulreise besuchte, und auch später nie. Schleunigst Zeit, «Besichtigung Rheinfall» von der bucket list zu streichen.

Um es gleich zu sagen: Ein Besuch lohnt sich. Der Rheinfall ist als Naturphänomen eindrücklich, und wenn man quasi in den herunterdonnernden Wassermassen steht, auf der auf den Rhein hinausragenden Aussichtskanzel, das Rauschen und Rumoren vernimmt und die Gischt und den kühlen Dampf spürt, denkt man: Dieses Erlebnis sollte man sich besser nicht auf LSD oder synthetisch optimiertem Cannabis reinziehen. (Anmerkung: Ich konsumiere keine Drogen, es ist einfach ein Tipp für all jene, die es tun.) Denn Wasser in solchen Massen besitzt eine beängstigende Kraft, bedrohlich und unentwegt schiesst es über die Stufen im Flussbett, sodass einem schwummrig wird und bang. Und dann auch noch der Regenbogen, der sich surreal aus dem schäumenden Weiss in den Hintergrund erhebt, der wiederum historisch suboptimal anzusehen ist und alsbald noch suboptimaler sein wird: Baukräne künden es an, zwei Hochhäuser kommen am Horizont hinzu, schliesslich heisst der Ort ja – nomen est omen – Neuhausen.

Doch man kann sagen: Der Rheinfall ist kein Reinfall. Sorry für das Wortspiel, aber der Rhein reizt dazu, so lautet etwa der Slogan des Anbieters von Bootsfahrten «...und rhein gehts!», ein 360-Grad-Kino «Rhyality» und winters nennt sich das Fonduestübli «Rhyfal(l)p». Als Tourismus-Hotspot bietet der Ort alles, was ein solcher bieten muss, inklusive Souvenirshop mit «I? Rheinfall»-Strohhüten, einer Instagram-Foto-Spot-Tafel sowie einem Gedenkschild für Goethe, der ein Rheinfall-Freak gewesen sein soll. «Der Dampf des Rheinfalls vermischt sich mit dem Nebel und steigt mit ihm auf. Unten strömen die Wellen schäumend ab, schlagen hüben und drüben ans Ufer, die Bewegung verklingt weiter hinab, und das Wasser zeigt im Fortfliessen seine grüne Farbe wieder», so schrieb der Dichter, schöner kann man es nicht tun. Was noch? Fischchnusperli mit Tartarsauce natürlich. Eine Bootsfahrt selbstverständlich. Eine Gedenkmünze logischerweise.

Gesättigt von den Eindrücken dieses touristischen Gesamtpakets schlendere ich am Rheinfallquai, bestaune eine Skulptur aus Aluminium mit dem Titel «Dreiklang bei Nacht», die in den himmelblauen Tag ragt und gemäss Plakette der Alusuisse gehört (heute im US-Konzern Novelis aufgegangen, nicht zu verwechseln mit dem Dichter Novalis, der übrigens wie Goethe Bestandteil der wissenschaftlichen Untersuchung «Romantische Metaphorik des Fliessens»* ist, denn bei den Poeten war einst vieles im Fluss). Die Skulptur erinnert an das industrielle Erbe – hier wurde seinerzeit das erste Aluminiumwerk Europas erbaut. Und noch immer wird direkt am Rheinfall produziert, etwa bei der Waffenschmiede SIG Sauer AG, deren Sturmgewehre sich beim FBI oder dem deutschen Spezialkommando GSG 9 grosser Beliebtheit erfreuen, aber auch auf dem Schwarzmarkt im Jemen anzutreffen sind.

Und es stolpert und poltert und fällt das reissende Wasser. Stetig. Mächtig. In Massen. Nach Moskau fahr ich dann ein andermal.

Technische Daten Rheinfall: Breite: 150 Meter. Höhe: 23 Meter. Tiefe Becken: 13 Meter.

Abflussmenge pro Sekunde: 600’000 Liter sommers, 250’000 Liter winters

*herausgegeben von Walter Pape bei De Gruyter, 285 Seiten, ISBN 978-3-484-10877-6, 216 Franken