• Oktober 2021

ICH FUHR SCHON LANGE NICHT MEHR mit der Deutschen Bahn

«Das gibts auch in der Schweiz», sagte ich zu der mir unbekannten Sitznachbarin im komplett ausgebuchten Erste-Klasse-Abteil des ICE 74 nach Hamburg. Sie war in Freiburg zugestiegen und wetterte, kaum hatte sie ihren Koffer in die Ablage gewuchtet, über die Verspätung, die wir seit der Abfahrt in Zürich aufgesammelt hatten.

«Erst unlängst fuhr ich in einem Zug, der war auch vier Minuten verspätet», sagte ich, «Verspätungen sind im öffentlichen Personentransport keine Seltenheit.» Sie blickte mich an, als wollte ich sie verarschen. Sie meinte: «Letzte Woche blieb der Zug einfach stehen. Mitten auf der Strecke. Ging nicht mehr weiter. Keine Info. Irgendwann stieg ich aus und nahm ein Taxi. Die Rechnung hab ich dann der Bahn geschickt. Und mit den Bahn-Streiks fang ich jetzt erst gar nicht an.»

Wie auf Kommando hielt der Zug auf offener Strecke. Es folgte die Durchsage: Noch mehr Verspätung. Die Frau stöhnte laut auf und ich stülpte mir Kopfhörer über, um meine Ruhe zu haben. Pünktlich mit einer Stunde Verspätung kamen wir in Hamburg an.

Das war die Idee gewesen: Mit dem Zug klimafreundlich und gemütlich nach Hamburg fahren, dort Michael treffen, einen Freund, den ich aus sattsam bekannten Gründen länger nicht gesehen hatte, im Vienna an der Fettstrasse Schnitzel essen, Faugères trinken, über die Zeit sprechen, die hinter uns lag und auch über ein paar Dinge, die erst noch kommen. Und so machten wir es. Es war sehr schön, die Schnitzel gross, der Faugères ebenfalls.

Schon am nächsten Tag fuhr ich wieder nach Hause, stand früh auf. Ich hatte Verpflichtungen in der Heimat. Doch der Zug um 8:24 kam nicht, und als er zwanzig Minuten später dann doch kam, hatte es der Reservationszufallsgenerator gut mit mir gemeint, ich sass in einem Viererabteil in der Ecke, zusammen mit reiselustigen, aufgekratzten Omas, die wirkten, als würden sie sich schon bald an die Riesling-Vorräte des Bordbistros machen.

Aber der Zug fuhr nicht los. Die eben noch gut gelaunten Omas wurden mürrisch. Muffelig. Gnatzig. Wegen der Bahn. Den Verspätungen. Den Streiks. Lobten das Auto. Dann: Der Zug sei kaputt, hiess es durch den Lautsprecher. Ersatzlos gestrichen. Alle aussteigen, bitte. Die Omas schimpften drauflos. Damit waren sie nicht alleine. Die Schlange vor den Schaltern der Deutschen Bahn war bald länger als die vor dem geilsten Bubble-Tea-Laden der Welt.

Eine halbe Stunde später sagte mir die Frau am Schalter mit gequältem Lächeln, der nächste Zug nach Zürich, in dem sie einen Sitzplatz garantieren könne, der fahre um kurz vor halb drei. «Dann sind sie um 22 Uhr in Zürich.» – «Aber ich habe Verpflichtungen!» – «Sie können natürlich gerne auch auf gut Glück in einen Zug steigen.» – «Aber dann könnte es sein, dass ich bis Zürich stehe?» – «Durchaus. Vielleicht aber haben sie auch Glück.» – «Glauben Sie denn an das Glück?» Wieder das gequälte Lächeln.

Ich musste nachdenken, also ging ich zur DB-Lounge, um irgendwo zu sitzen. Sie war geschlossen, wegen Umbaus. Es gab ein Provisorium im Hotel Europäischer Hof. Doch der Mann am Eingang verweigerte den Zutritt. Weil: Ich hatte ein Sparpreis-Ticket. Erste Klasse zwar, aber Spar-Billett. In die Lounge kommt nur, wer den vollen Preis abdrückt. «Aber mein Zug wurde gestrichen. Ich muss Stunden warten!» Der Mann tat, was er scheinbar sehr gut kann, er zuckte mit den Schultern.

Nur kurz überlegte ich, dann war mir klar, was zu tun war. Ich ging zum Taxistand. Der Rücksitz des Mercedes war viel weicher als der Sitz im Zug gewesen war. «Wohin solls gehen, Chef?», fragte der Taxifahrer, kaum war die Tür ins Schloss gefallen. Und ich sagte, was ich schon lange nicht mehr gesagt hatte: «Zum Flughafen.»

Song zur Stadt: «Hamburg» von den Lassie Singers vom Album «Sei À Gogo», 1992 Kulturtipp für Wartende: Die Kunsthalle liegt nur Schritte vom Bahnhof entfernt und bietet Megahits wie «Der Wanderer über dem Nebelmeer» von Caspar David Friedrich, um 1817 Entschädigung bei Verspätung: Ab 60 Minuten 25 Prozent des Fahrpreises, ab 120 Minuten 50 Prozent