GESPIEGELT IM HIER UND JETZT
Dann hielt ich eine Tube in den Händen, Voltaren stand drauf. Ich war gerade an der periodischen Durchsicht des Spiegelschranks im Bad, dem Ausmisten der Hausapotheke. Die Tube beamte mich weg an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Denn Voltaren hat eine Bedeutung, auch für mich, und einen Ursprung. Den in Basel von der J. R. Geigy AG in den Sechzigern synthetisierten Wirkstoff Diclofenac wollte man unter einem etwas griffigeren Namen auf den Markt bringen. Also nahm man den gleich auf der anderen Rheinseite liegenden Voltaplatz, kombinierte diesen mit der lateinischen Bezeichnung des Rheins («Rhenus»)…et voilà: Schon hatte man «Voltaren». So geht die Legende.
Ich wohnte viele Jahre beim Voltaplatz, den wir damals Folterplatz nannten. Er war nichts anderes als ein Loch mit sich stets wandelndem Verkehrswirrwarr, eine gewaltige Baustelle für das, was heute Stadtautobahn im Untergrund ist. Mein kleines Büro lag auf der anderen Seite des Platzes, an der Kraftstrasse. Ich liebte diese konkreten Bezeichnungen der Strassen in jener Ecke Basels: Gasstrasse, Wattstrasse oder Wasserstrasse; und an der Lichtstrasse blutete mein gebrochenes Herz, wenn ich an der Hausnummer 5 vorbeikam, wenigstens für eine Weile, einer klassischen Zurückweisung geschuldet, die ich damals nicht verstehen wollte. Herzschmerz: etwas, das keine Salbe heilen kann, sondern nur die eigene Vernunft zusammen mit der Zeit und der Gewissheit, dass es nicht nur eine Vergangenheit gibt und eine Gegenwart (in der man gerade schmorte), sondern auch so etwas wie eine Zukunft, die Neues für einen bereithalten würde.
Es gibt in jenem Quartier Strassen, deren Namen heute klingen wie aus dem Klimakillermuseum, etwa die vom Ampèreplatz her kommende Fabrikstrasse, die zur Kohlestrasse wird, die in die Schlachthofstrasse aufgeht und sich später in die Flughafenstrasse ergiesst, die vor der Landesgrenze nicht haltmacht und als Rte Douanière de l’Aéroport à Bâle zum Flughafen führt, wo sie in der Beton- und Teerlandschaft des Airport-Parkings zu verschwinden scheint, aber irgendwann als dünne Rte du Frêt wieder auftaucht, bevor sie einen Kreisel weiter von der Strasse verschluckt wird, die nur noch eine Buchstabenzahlenkombination ist: D105.
Damals war zwischen Voltaplatz und Grenze Umbruchland. Im Rheinhafen St.Johann wurden noch Schiffe entladen. Vom Schlachthof her roch es leicht nach Tod, dann und wann, je nach Wind, nicht selten der nahen Grossbäckerei wegen auch nach Fettgebäck, und es gab ein Geldwechselbüro, kurz vor dem Zollübergang, die Wechselstube Walter Schnegg. Im Schaufenster hingen an einer Wäscheleine Geldscheine, und eine Packung Waschmittel lag dort neben einem Plastikbecken. In goldenen Lettern stand geschrieben: «Geldwäscherei».
Und was mir auch noch einfiel: Als ich damals den frisch aus vierter Hand gekauften Audi Quattro das erste Mal bei der Voltamatte einparkte, nicht ohne Mühe, dabei wurde ich vom Besitzer des Dönerladens an der Ecke beobachtet, und als ich es endlich geschafft hatte und an ihm vorbeiging, sagte er: «Hasch du Billett in Tombola gewonnen?»
Daran erinnerte ich mich…und an vieles andere nicht. Weshalb bleiben gewisse Dinge hängen, auch wenn sie unwichtig sind, und anderes verschwindet im Loch des Vergessens? Ich legte die Tube Voltaren zurück in den Spiegelschrank, und als ich ihn schloss, sah ich mich gespiegelt im Hier und Jetzt, aber ich war auch noch immer am Voltaplatz, wenigstens für ein paar Sekundenbruchteile.