• Dezember 2023

DIRTY OLD TOWN

Ich wachte mit dem wohligen Gefühl auf, nach einem schönen Traum zu Hause in meinem Bett zu liegen: Der vertraute Alarm des iPhone-Weckers (Klingelton «An der Strandpromenade»), die Knirschschiene im Maul, auf dem Nachttisch neben der abgelegten Armbanduhr die 1079 Seiten John Irving, in welchen ich vor dem Einschlafen wohl erneut nicht gelesen hatte. Alles wie immer. Aber dann merkte ich: Neben mir lag nicht wie sonst meine Frau. Es lag überhaupt niemand neben mir. Und als ich nicht ohne Dringlichkeit mit noch nachtmüden Gliedern aus dem Bett schlüpfte und die Türe zum Bad öffnete, stand ich nicht vor dem erlösenden Klo, sondern im Wandschrank.

Zwar war das Zimmer so gross wie mein Schlafzimmer, und das Fenster war an derselben Stelle, aber trotzdem war es ein anderes Zimmer. Dann kam mir alles wieder in den Sinn. Ich war in einem Hotel namens Travelodge in St.Albans, zwanzig Zugminuten nördlich von London. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, nach St.Albans zu reisen, aber ein Freund hatte mich und einen weiteren Freund überzeugt, zweier Fussballspiele wegen auf die Insel zu reisen. Das erste Spiel war in Newcastle gewesen, die Magpies gegen die Gunners. Zum Glück war ein Kenner der Materie dabei, so ging in Newcastle kein Pub vergessen – schon gar nicht das Rosie’s –, und wir stärkten uns mit dem dortigen Grundnahrungsmittel (Newcastle Brown Ale).

Das Spiel tags darauf war Luton gegen Liverpool. Auchmit Fussball weniger Vertrautenist Lutonsicherlich ein Begriff, denn der Flughafen London Luton (LTN) wird von Easyjet angeflogen. Was man sonst noch über Luton sagen kann? Der Ort wurde heuer zum «worst place to live in England» gewählt. Nicht zum ersten Mal hat er diese Auszeichnung bekommen; und nicht von ungefähr. Aber Luton hat einen Fussballclub, der seit dieser Saison in der höchsten Spielklasse agiert, und dies an einem aussergewöhnlichen Ort: dem Kenilworth-Road-Stadion («The Kenny» genannt, manchmal auch «The Old Girl»). Das Stadion inmitten eines Wohnquartiers fasst gerade einmal 10’265 Fans. Hier hat der Luton Town FC seine Heimat seit 1905 – und es ist wohl einer der romantischsten Orte im hyperkommerzialisierten Spitzenfussball. Liverpool-Trainer Jürgen Kloppmeintean jenem Abend gegenüber der Presse, die spartanische Umkleidekabine des Stadions erinnere ihn an einen Zeltplatz auf dem Mount Everest. Das Spiel? Ordentlich, die Stimmung grossartig, am Ende ein gerechtes Unentschieden gegen den grossen Gegner, auf den Rängen alles sehr entspannt, dafür arschkalt und windig und Regen aus allen Richtungen. Näher als hier kommt man dem Fussball wohl kaum.

Aber eben: Das Stadion mag wunderbar sein, Luton selbst ist es weniger. Deshalb nächtigten wir im nahen St.Albans, ein ganz und gar schmuckes Städtchen mit Geschichte an jeder Ecke, schicken Cafés, gewaltigen Kathedralen und teichgespickten Parks, die so weitläufig sind, dass man sich sogleich einen Hund zulegen möchte. Hier also wachte ich im Travelodge auf und meinte irrtümlicherweise, zu Hause zu sein. Und als ich das Hotelzimmer verliess und mich an das Zurückliegende erinnerte, die beiden Spiele und die hundert Pubs und Pints, da war mir, dass ich mit dem Gefühl so falsch gar nicht lag. Freundschaft und Fussball beginnen wohl nicht zufällig mit demselben Buchstaben.

Seit meiner Heimkehr steht in meinem Kühlschrank eine Flasche Newcastle Brown Ale als flüssige Erinnerung an die Tage auf der Insel – und als Denkzettel, dereinst dorthin zurückzukehren, oder besser: baldmöglichst.