DIE WELT, IN DER WIR LESEN
Wenn ich eine Reise unternehme, bin ich gerne eine halbe oder auch mal eine ganze Stunde zu früh am Bahnhof. Dies nicht aus Angst, meinen Zug zu verpassen, obwohl ich durchaus zu jenen Menschen gehöre, die dem Seelenfrieden zuliebe gerne etwas Zeit verschwenden. Der Grund für den grosszügigen Zeitpuffer ist der Gang zum Bahnhofskiosk, an dem ich mich nicht nur mit gedrucktem Proviant für die anstehende Reise eindecke, sondern einfach ein bisschen stöbere und die Ware studiere; denn ein gut bestückter Kiosk mit seinen Hunderten von Zeitschriften und Zeitungen zeigt mir immer wieder, wie wenig ich über die Welt und ihre Bewohner und Bewohnerinnen weiss. Oder besser gesagt: über die Dinge, die andere Menschen beschäftigen und bewegen.
Das Spektrum der von Zeitschriften abgedeckten Interessen und Begierden ist gewaltig, reicht von den allgemein bekannten sexuellen Sehnsüchten in den oberen Regalen über Materielles und tendenziell Unerreichbares in fetten Hochglanzzeitschriften (Luxusjachten) bis hin zu allem, was man als Normalsterblicher besitzen oder gar sammeln kann, seien es Briefmarken, Oldtimer-Traktoren oder Gartenbahnen, also Modelleisenbahnen, die so gross sind, dass man drauf sitzen kann («Der ‹Rote Pfeil›-Schnelltriebwagen»).
Es wird in den Magazinen gegärtnert und gekocht, gestrickt und geboxt, gewohnt und getratscht – selbst Fans von Schwertransporten, Schwarz-Weiss-Fotografie oder Schwingsport finden ein Heftchen, das sich ganz und gar ihrer Leidenschaft widmet.
Was mir im Bahnhofskiosk immer wieder auffällt: Es gibt sie noch, die Unterscheidung zwischen Mann und Frau, denn eine Vielzahl von Zeitschriften wenden sich direkt an ein spezifisches Geschlecht, tragen die adressierte Kundschaft gar im Titel: «Frau im Bild», «Frau im Trend», «Frau mit Herz». Manche dieser Zeitschriften scheuen sich nicht, auf der Titelseite leckere Rezepte («Mmmh, es gibt Schnitzel!») mit Abnehmstorys zu kombinieren («134 Pfund weg. Der Trick: Wenn ich satt bin, hör ich auf zu essen»). Den Mann aber gibt es weder «im Bild» noch «im Trend» noch «mit Herz». Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Mann sei des Lesens nicht mächtig, denn direkt an ihn gerichtete Zeitschriften sind rar und bloss im Selbstoptimierungsbereich zu finden, zudem mit englischen Begriffen camoufliert («Men’s Health»: «Leckere Power-Rezepte fürs Frühstück – sogar Pizza und Pancakes»).
Dann und wann kaufe ich eine Zeitschrift, die ich eigentlich niemals kaufen würde, um etwas über jene Welten zu erfahren, von denen ich keinen blassen Schimmer habe. Der Griff dabei erfolgt jeweils blind, sonst wäre die Wahl selbstverständlich bereits vom Gehirn kuratiert. Da aber dieses Gehirn den Kiosk kennt und folglich weiss, in welcher Ecke in etwa was zu finden ist (oben links Modelleisenbahnen; unten rechts Fernsehprogrammzeit schriften; mittig Waffenmagazine), drehe ich mich nach dem Schliessen der Augen fünfmal im Kreis, damit die Orientierung verloren geht und der anschliessende Griff nach einer Zeitschrift maximal zufällig erfolgt. Diese Methode mag für andere vielleicht irritierend wirken, ist dafür aber äusserst effektiv!
Heute hatte ich keinen Zug zu erwischen, war nur des Kiosks wegen zum Bahnhof gefahren. Also ging ich in ein Café in der grossen Halle, bestellte einen Espresso und holte die blindlings gekaufte Zeitschrift aus der Tüte. Das «Feuerwehr-Magazin»! Hundert Seiten nichts als Löschfahrzeuge, lodernde Flammen und Tatütata! Dreimal umgeblättert, und ich war wieder ein Junge von acht Jahren.