DIE ANGST VOR DEM LOCH
In das neue Jahr zu schlendern, es ist so, wie wenn man die Treppe der Zahnarztpraxis hinuntergeht, beschwingt, und die Türe im Rücken zufallen hört. Eben lag man noch im Behandlungsstuhl: Dentalhygiene. Es war nicht weiter schlimm, es gab sogar gute Neuigkeiten, die Plomben seien alle noch in Ordnung, hiess es. «Amalgam forever!», dachte man, während man in die grelle Lampe blinzelte und lächelte, so gut dies ging mit sperrangelweit aufgerissenem Maul und latexbehandschuhten fremden Fingern drin.
Man geht also die Treppe hinunter, erleichtert, man hat es hinter sich, geschafft, dennoch ist man noch etwas verspannt, hallen die Geräusche nach: das Röcheln des Speichelziehers; das Brummen der Pumpe, welche den Becher wie von Geisterhand füllt, damit man das Blut aus dem Maul spülen kann; das Kratzen des Instruments mit dem krummen, spitzen Ende, mit dem der hartnäckige Dreckbelag von den Zähnen geschabt wurde. Doch dann schleckt man ein erstes Mal mit der Zunge über das frisch polierte Gebiss, und gleich noch einmal: ein unglaubliches Gefühl der Reinheit und Frische. So fühlt sich auch das neue Jahr an. Und man tritt aus dem Haus und nimmt sich vor, die Zähne ab sofort jeden Tag achtmal zu putzen, damit dieses geniale Gefühl für immer anhalten möge. Bis man es vergisst und das Gefühl schwindet, nach und nach. Und einem irgendwann bewusst wird, dass alles bereits wieder längst von vorne begonnen hat.
Eine Zahnarztpraxis und die erste Tranche des neuen Jahres in Form des Monats Januar haben eine Gemeinsamkeit: das Loch. Oder besser gesagt: die Angst davor. Ein real existierendes Phänomen übrigens, mit griechischem Namen gar und eigenem Lexikoneintrag, man nennt es Trypophobie, die Angst vor Löchern. Allerdings handelt es sich dabei weniger um die Furcht vor dem einen grossen Loch, im Monat etwa oder im Zahn, sondern um Ängste in Bezug auf Löcher, die klein sind und in grosser Anzahl auf engem Raum daherkommen, bei Badeschwämmen etwa, wurmzerfressenem Holz oder dem Käsereibe-Gehäuse des Mac-Pro-Computers von Apple, manchmal auch als Bläschen-Cluster, als Kaffee- oder Badeschaum beispielsweise. Gewissen Menschen wird beim Anblick solcher Dinge übel. Manche überkommt Furcht. Schwindel. Es treten ungute Gefühle in ihrer ganzen Bandbreite auf. Trypophobie ist keine anerkannte Angststörung und noch nicht sonderlich gründlich erforscht, doch man nimmt an, dass es sich dabei um eine tief in uns steckende Angst vor ansteckenden und potenziell tödlichen Krankheiten wie Typhus, Masern oder Pocken handelt, die optische Symptome besitzen, welche ähnliche Muster aufweisen. Eine Furcht also, die absolut verständlich ist. Warnende Erinnerungen an ferne, wüste Zeiten. Der Mensch ist eben doch ein kluges Ding – dann und wann wenigstens. Hingegen stellt sich sogleich die Frage, weshalb gewisse Menschen unbändige Lust verspüren beim Anblick von Luftpolsterfolie und nichts anderes wollen, als die kleinen Noppen zum Platzen zu bringen, eine nach der anderen.
Nun, das Januarloch ist von der Trypophobie nicht tangiert. Es ist ein Solitär. Und ein Saisonnier, bald schon wieder wird es vorüber sein. Zwar folgt ihm noch das gelegentlich beschriebene Februarloch (tief, vor allem in finanzieller Hinsicht, skiferienbedingt), doch ein Märzloch ist kaum bekannt, ein Aprilloch schon gar nicht. Je älter das Jahr wird, desto mehr schwindet die Lochgefahr. Bis zum Sommer. Dann steht auch der nächste DH-Termin an. Aber dies ist wieder eine ganz andere Geschichte.