• Januar 2023

DICKE DINGER

Lesen – leicht gemacht, stand in einer Zeitung, dazu die Empfehlung der «besten Bücher unter 200 Seiten». Denn dünne Bücher «lassen sich gut mitnehmen und sind schnell durchgelesen».

Mit gewissem Erstaunen erfuhr ich in jenem Artikel, dass eines dieser besten dünnen Bücher «Der alte Mann und das Meer» von Ernest Hemingway sei. Ich las «Der alte Mann und das Meer», als ich noch ein junger Mann war, vor hundert Jahren also. Und in meiner Erinnerung ist das Buch nicht flach wie eine Flunder, sondern dick wie eine Robbe. Diese Erinnerungstrübung hängt wohl damit zusammen, dass mir die Geschichte damals öde vorkam – oder die Kernbotschaft (niemals aufgeben; staune, wozu ein eiserner Wille fähig ist) meinem jungen Ich zuwiderlief.

Eventuell hatte ich von Hemingway auch einfach etwas anderes erhofft (Action, Sex und Suff), wobei man nicht sagen kann, der Titel «Der alte Mann und das Meer» sei Etikettenschwindel. Da ist mehr oder weniger drin, was draufsteht. Eventuell sollte ich mir das Büchlein wieder einmal vornehmen; andererseits: Ich bin gerade bestens bedient und mitten in einem Moby Dick von einem Buch, genauer auf der Schnapszahlseite 555 eines Romans mit dem seltsamen und eventuell falsche Erwartungen weckenden Titel «Gesammelte Werke» der schwedischen Autorin Lydia Sandgren.

Dabei handelt es sich nicht um gesammelte Werke, sondern um einen Roman mit einer Geschichte, die auf knapp 900 Seiten erzählt wird. Es ist die Geschichte von Martin und Gustav, zwei ziemlich besten Freunden, der eine angehender Schriftsteller (scheiternd) und der andere zukünftiger Maler (ruhmreich) – und Cecilia, Muse des einen, Geliebte des anderen, Mysterium für alle. Die Geschichte spielt im Schweden der 1980er und im Schweden von heute, erzählt von Fluchten nach Paris und Erinnerungen an Addis Abeba.

Ein Freund meinte, es sei das langweiligste Buch, welches er je gelesen habe. Und in der Tat, eine gewisse Ereignislosigkeit ist dem Werk nicht abzusprechen, aber genau dies macht die Faszination aus: die wohltemperierte Langeweile und die Zeit, die sich die Autorin nimmt, um die Geschichte aufzufächern. Zudem stolpere ich immer wieder über Orte und Namen, die mir nichts sagen, etwa das vornehme Stockholmer Restaurant Operakällaren (Motto: «Från michelin* till husmanskost») oder einen dänischen Kunstmaler des 19. Jahrhunderts namens Vilhelm Hammershøi, von dem ich noch nie gehört hatte.

Genau dies liebe ich an Büchern, seien sie dick oder dünn: wenn sie mehr wissen als man selbst, sie einen zwingen zu lernen. Ich war noch niemals im Operakällaren, aber es steht nun auf der Liste der Dinge, die zu erledigen sind, sollte es mich einmal nach Stockholm verschlagen. Und ich habe auch noch nie einen Hammershøi mit eigenen Augen gesehen. Doch ich habe mich schlaugemacht. Das wohl nächsthängende Werk findet man in Frankfurt, im Städel Museum, im 1. Obergeschoss, Abteilung «Kunst der Moderne», Raum 8. Die Abbildung von «Interieur. Strandgade 30» sieht im Internet unspektakulär aus, langweilig gar: eine spärlich möblierte Wohnung, offene Türen, einfallendes Licht, eine abgewandte Person. Aber ist es nicht gerade die vermeintliche Langeweile, die spannend ist? Die ihr innewohnenden Versprechen, das latent Unheimliche?

Vielleicht eine gute Idee: in den Zug steigen, nach Frankfurt fahren, dort den Hammershøi besichtigen. Und im Zug lesen. Vier Stunden hin, vier Stunden her. Das sollte locker für «Der alte Mann und das Meer» reichen, Thunfischbrötchenpause inklusive.