DER ENTWURF EINER GEMEINSAMEN ZUKUNFT
Drei Dinge weiss ich noch sehr genau über dieses eine Wochenende in Rotterdam, zwanzig Jahre ist es her oder mehr: Wir waren frisch verliebt. Wir waren zum Abendessen im Grand Café Restaurant Loos (dort klaute ich einen Aschenbecher aus Bakelit). Und wir bekamen im Hotel eine Suite mit Kamin, obwohl wir bloss ein einfaches Zimmer gebucht hatten. Ein Upgrade aus heiterem Himmel – manchmal meint es das Leben gut mit einem.
Als wir die Suite betraten, waren wir baff: Der holzgetäfelte Riesenraum war hoch wie eine Giraffendisco, die alten Böden unter den Teppichen knarzten wohlig, und der Blick aus den gewaltigen Fenstern ging aufs Wasser und dorthin, wo die Menschen früher Schiffe bestiegen, die sie in die Zukunft ihrer Träume auf der anderen Seite des Ozeans brachten. Deshalb auch heisst das Hotel New York so, wie es heisst: Es befindet sich im einstigen Hauptsitz der Holland-Amerika Ljin, früher ein transatlantischer Passagierliniendienst, den über eine Million Menschen genutzt haben sollen, um Europa den Rücken zu kehren auf der Suche nach dem Glück und einem neuen Leben in Amerika. Schon von aussen wirkte das Jugendstilgebäude mit seinen zwei uhrenbestückten Türmen betörend und zu einer kleinen Zeitreise einladend. Drinnen ging die Reise weiter mit all den Geschichte verströmenden Dingen – wie Requisiten für eine romantische Komödie à la hollandaise: Art-déco-Schnörkeleien, zum Zertrümmern einladende Vasen mit maritimen Motiven in Delfterblau und ein Lüster an der Decke, an dem man sich am liebsten wie ein Affe durch das Zimmer schwingen würde.
Uns war, als wanderten auch wir aus: aus dem alten in ein neues Leben. Wir hatten das Gefühl, nicht nur einander gefunden zu haben, sondern auch so etwas wie eine gemeinsame Zukunft, die bereitlag. Und das Wochenende in Rotterdam potenzierte dieses Gefühl. So verfassten wir in der Suite des Hotels New York einen Brief, in dem wir übermütig und mit dem unerschütterlichen Selbstvertrauen und Optimismus von frisch Verliebten festhielten, was wir uns alles von der Zukunft erhofften, erwünschten, ersehnten, was wir von ihr verlangten, ja einforderten. Den Brief falteten wir Mal um Mal, bis er ganz klein war. Dann schoben wir ihn tief in eine Ritze des alten Täfers des Hotelzimmers, bis er nicht mehr zu sehen war.
Wir standen am hohen Fenster des Hotelzimmers, das einmal das Vorstandszimmer der Holland-Amerika Ljin gewesen war, im Kamin knisterte ein Feuer, und wir blickten abwechslungsweise durch einen Feldstecher hinaus auf das, was vor uns lag: ein immer dunkler werdender Abendhimmel, weit und wie gemalt von einem flämischen Meister.
An all dies erinnere ich mich vage bis ganz präzis (etwa daran, was Aschenbecher auf Niederländisch heisst: asbak), an alles andere nicht, weil: Wir waren ja frisch verliebt. Das trübt die Sinne. Und der gefaltete Brief mit dem Entwurf einer gemeinsamen Zukunft, dieses Manifest des Morgens, steckt wohl noch immer in der Ritze des Täfers in der Suite des Hotels am Wasser in Rotterdam.