LIEBES NEUES JAHR
An der Bushaltestelle stand ich, dachte darüber nach, was ich mir dieses Jahr zum Geburtstag wünschen sollte, denn bald steht der vor der Tür. Während ich so dachte, die Gedanken wie ein Gulasch bei niedriger Temperatur simmerten, da sah ich mit dem linken Auge den Bus einfahren, der mich in mein Büro bringen würde, mit dem rechten Auge aber sah ich etwas anderes: eine Mutter, einen Kinderwagen schiebend, einhändig, dazu telefonierend. Etwas fiel aus dem Kinderwagen, etwas Kleines, Grünes, wohl ein Spielzeugauto. Der Bus blinkte, verlangsamte seine Fahrt. Die Mutter ging weiter. Am Boden lag leuchtend grün das Spielzeugauto. «He!», rief ich der Mutter zu, doch sie hörte mich nicht, stapfte telefonierend weiter, kondensierender Atem kam aus ihrem Mund, sie sah aus wie ein dampfbetriebener Roboter. Der Bus hielt, pfupfend öffneten sich die Türen, Leute stiegen aus. Die Mutter mit dem Kinderwagen entschwand. Ich war in einem Dilemma: Sollte ich einsteigen und ins Büro fahren, oder sollte ich das Spielzeugauto aufheben und der Mutter hinterherlaufen?
Ich entschied mich für Letzteres (nur kurz erwog ich eine dritte Möglichkeit: das Spielzeugauto einstecken, als Belohnung quasi für den Ansatz der Absicht der guten Tat, dann in den Bus steigen). Eilig ging ich die Schritte zum Spielzeugauto, bückte mich, hob es auf (es war ein grüner Porsche), rannte der Mutter hinterher (telefonierende Mütter mit Kinderwagen können erstaunlich schnell sein), holte sie ein.
Schlafend lag der Bub im Wagen, was mich etwas neidisch machte, nicht dass ich meine Kindheit vermisse, aber schlafend in einem Wagen herumgeschoben zu werden – vor allem winters –, den Leib in einen wärmenden Sack gehüllt, wie ein Würstchen im Teig... Nun ja, im Alter kommt das ja vielleicht dann wieder. Dem Buben musste das Auto aus der Hand gefallen sein. Sicherlich hatte er es fest umklammert, wie ein Kleinod, sein Ein und Alles, dann aber kam der grosse Meister Schlaf über das Kind, welches sich ihm ergab, die Schwerkraft tat den Rest. Die Nasenlöcher des Buben glänzten vor Rotz, die Backen waren rosig, den Kopf hielt er schräg, wovon mochte er träumen? Die Mutter klemmte ihr Handy zwischen Ohr und Schulter, griff hastig das Auto, nickte kurz dankend, weitertelefonierend ging sie eilig weiter. Dann war sie weg, so wie auch der Bus weg war, ich sah ihn noch um die Ecke biegen, blinkend, als ob er mir zuzwinkerte.
In den kalten Himmel spähend, dachte ich: Zu schön, würde es jetzt zu schneien beginnen. Aber es begann nicht zu schneien, es sah eher nach Regen aus. Ich ging zurück zum Wartehäuschen und blickte auf meine Uhr, dann auf den Fahrplan, nestelte dann mein Handy aus dem Hosensack (um die genaue Zeit zu haben, denn Armbanduhren sind ja hübsch anzusehen, selten jedoch sekundenpräzis). In acht Minuten käme der nächste Bus. Acht Minuten später als gedacht würde ich also im Büro ankommen. Acht Minuten eines Arbeitstages, die mir fehlen würden. Acht Minuten wären ein halber Satz dieses Briefes hier – ein halber Satz, der am Ende nicht geschrieben wäre, der fehlen würde. Auch für die Grussformel und das Postskriptum dieses Briefes an das neue Jahr würde es wohl nicht reichen.
Als ich auf den nächsten Bus wartete, da dachte ich: Ich hatte nicht die Welt gerettet, nicht die Welt als Ganzes, aber einen kleinen Teil davon. Hätte das Kind den grünen Porsche nach dem Erwachen nicht mehr in seinen Händen vorgefunden, es wäre sicherlich sehr traurig gewesen. Hätte geweint, gelitten, wäre vielleicht nie über diesen Verlust hinweggekommen. Wäre vielleicht später kriminell geworden deswegen. Ein Fussballhooligan. Drogensüchtig. Wer weiss. Ich hatte den Lauf der Dinge verändert, indem ich seine Kontinuität bewahrte. Ich hatte Gutes getan, obwohl ich acht Minuten verlor, oh ja, das hatte ich. Und je länger ich darüber nachdachte, desto schöner erschien mir der Gedanke: Ich hatte Gutes getan.
Ja, liebes neues Jahr, ich wollte dir diese Geschichte kurz erzählen, damit du weisst, dass ich das Herz auf dem rechten Fleck habe, nicht bloss an mich selbst denke, sondern auch an die anderen Menschen, so klein sie auch sein mögen – und mir deshalb ein richtig fettes Geburtstagsgeschenk zusteht. Ich denke, das habe ich mir verdient. Was ich mir wünsche? Nun, das ist ganz einfach! Hast du was zu schreiben? Gut! Also, ich wünsche mir ein massgefer