• August 2024

BRIEF AUS DEM MISOX

Mehr als zwei Monate ist es nun her, dass die Blitze kamen und der Donner, der Regen im Misox niederging, so gewaltig und lange wie vielleicht nie zuvor. Was die fatalen Folgen waren, erfuhr man aus den Medien. Die Autobahn ist nun bereits wieder halbseitig geflickt, aber noch immer sieht man die immensen Schäden, die das Unwetter angerichtet hat. Strassen und Wege sind verschüttet, Wiesen verschlammt – und wie erstarrte Flüsse scheinen die bleichen Lawinen aus Stein, die sich durch die Wälder gefressen haben und nun dort liegen. Mit schwerem Gerät ist man daran, die Steine wegzuschaffen, doch es wird noch lange dauern, bis die Aufräumarbeiten abgeschlossen sind. Und die Erinnerungen an die Ereignisse des 21. Juni werden lange darüber hinaus andauern. Spricht man mit Menschen, die in jener Nacht zugegen waren, in ihren Häusern, abgeschnitten von der Umwelt, fühlt man noch immer die Angst, die sie empfanden, als die Gewitter nicht mehr aufhörten, die Luft nach Schlamm roch und das unheilvolle Rumoren und Tosen der Steine zu hören war.

Der Mensch hat viele Nachteile, aber er hat auch Vorteile. Einer davon: Er ist fähig, solidarisch zu denken und zu handeln. Und er verfügt über Geld. Und dieses Geld kann er überweisen, damit Gutes geschieht, zum Beispiel an die nach dem Unwetter ins Leben gerufene Spendeninitiative Forza Mesolcina. Wem dies zu altruistisch ist, die oder der kann auch vor Ort die Wirtschaft unterstützen, und zwar im direktesten Sinn, denn es gibt so manches Restaurant im Tal, welches zu besuchen sich lohnt (in Grono sogar ein glutenfreies namens B Atelièr Bistrôt sowie den super Inder Ristorante Jaipur).

Oder man lernt auf einem Spaziergang in Cama, dass ein Grotto nicht bloss ein rustikales Beizchen meint, in welchem man Risotto schlürft und Merlot güllert, sondern ein historisches Lagersystem für Lebensmittel ist, welches sich die geologischen Besonderheiten des postglazialen Felssturzgebiets zunutze macht. Es gibt fantastische Metzger und Wurster (etwa den Familienbetrieb Bernasconi-Fumagalli in Grono oder die Macelleria Alpina in Mesocco), zudem den meiner Meinung nach besten Bäcker des ganzen Landes (Gianfranco Cuoco). Es existieren wahrlich Gründe genug, um auf der Fahrt vom oder in den Süden auf der A13 von der Autobahn abzufahren und aus dem Auto zu steigen.

Und für Gümmeler:innen sei noch eine lokale Spezialität erwähnt in diesem an steilen Strassen eh nicht armen Tal. Vor kurzem wurde der alte Forstweg von Grono nach St.Maria im Calancatal in eine durchgängig asphaltierte oder betonierte Piste nur für Velos umgewandelt, die Route 26, die nicht grundlos so heisst, sondern der 26 Haarnadelkurven wegen, die auf 6,7 Kilometer verteilt 623 Meter in die Höhe führen: ein Traum für alle Lycra-Masochisten und schweisssüchtigen Serpentinenselbstquälerinnen! 26 Kehren! Sogar der mythische Weg nach Alpe’Huez hat deren bloss 21.

Ich fuhr die Route 26 während der Sommerferien an einem Sonntagmorgen und traf unterwegs niemanden und nichts, abgesehen von sich in der Sonne rekelnden Eidechsen und zwei Rehen. Vielleicht waren die zwei Rehe auch bloss ein Reh, denn ich sah sie, als ich bereits japsend im Bereich der Diplopie angelangt war, der anstrengungsbedingten Doppelsichtigkeit, also kurz vor der Marienerscheinung. Und ich kann sagen: Wieder in Grono unten schmeckte das von dort stammende Gazosa in der Bügelflasche mit der Torre Fiorenzana auf dem Etikett so gut wie nie zuvor! Jedenfalls: Super Strecke! Super Tal! Forza Mesolcina!