• Januar 2017

ES WIRD VERMISST: DIE LANGEWEILE

LIEBE LANGEWEILE,

du bist so altmodisch wie ein Gehstock, eine Pfeife, ein Monokel. Niemand mag dich. Niemand will dich. Niemand braucht dich. Du bist so was von gestern, das totale Auslaufmodell. Denn du bist eine Nervensäge, weil: Du machst das Vergehen der Zeit spürbar. Deshalb bist du so unerträglich, so unheimlich, so unaushaltbar: Wir fühlen, dass da irgendwo am Ende der Zeit unser eigen Ende wartet. Es ist, als erführen wir dank dir einen mit Verwesung parfümierten hauchigen Duft einer Wahrheit, von der wir lieber nichts wissen möchten. Horror: Du zwingst uns zum Nachdenken über unser Leben. Und deshalb suchen wir immerzu einen Zeitvertreib, um dich aus der Welt zu schaffen. Was für ein Wort: Zeitvertreib. Als gälte es, die Zeit zu vertreiben wie einen räudigen Hund.Die letzten zehn Jahre waren echt hart für dich, liebe Langeweile, denn das iPhone und andere Gerätschaften gingen dir an den Kragen, das Eingemachte, die Eier. Es steht schlecht um dich. Du bist vom Aussterben bedroht. Ja, du gehörst schleunigst auf die Rote Liste der gefährdeten Arten.Ich muss gestehen, liebe Langeweile, auch ich habe dich in letzter Zeit schlecht behandelt, vernachlässigt und mit allen Mitteln bekämpft, ziemlich erfolgreich gar, und es wurde immer schlimmer, vor allem wegen eines Spiels namens Carcassonne. Kennst du es? Eigentlich ist Carcassonne ein klassisches Legespiel, welches in einer grossen Kartonkiste daherkommt; man spielt es, mit Freunden an einem Tisch von am besten mindestens einem Quadratmeter hockend. Ein sehr erfolgreiches Spiel übrigens, mehrfach prämiert, millionenfach verkauft. Ich muss gestehen: Ich kannte es nicht. Aber du weisst, wie das ist: Plötzlich hat man Kinder, und Kinder schleppen so manches mit ins Haus, dreckige Stiefel, ungekämmte Worte, Grippeviren in all ihren fantastischen Erscheinungsformen oder – ganz schlimm – Freizeit. Und mit Letzterem einhergehend kommen dann auch Dinge wie eben Carcassonne. Nun, es dauerte bloss Minuten, dann war ich süchtig danach, denn es kommt mir entgegen: Man kann es auch spielen, ohne gross nachzudenken.Das Problem jedoch: Um es zu spielen, benötigt man andere Menschen und eben auch einen Tisch. Schwierig, den in den Bus zu bekommen. Oder ins Tram. Oder durch die Drehtüre ins Café. Blöd, immer so ein Möbel mit sich rumzuschleppen und Freunde obendrein. Also habe ich mir halt einfach die App auf mein iPhone runtergeladen. Tja. Und seither hocke ich da, wo auch immer gerade, mit geneigtem Haupt. Man könnte meinen, ich bete, voll in Demut versunken, aber ich bete nicht, sondern baue Burgen, lege Wege, leite Flüsse dorthin, wo sie mein künstlicher Gegner nicht will, besetze Gebiete, gewinne, verliere, beginne neu. Als ich gestern ins Bett wollte, was sagte ich zu mir selbst? «Hey, bloss noch eine Partie.» Heute morgen, mit Augen wie Anis-Chräbeli? «Nur eine vor dem Kaffee.» Als ich den Schlüssel ins Bürotürschloss einführte? «Eine Partie, dann gehts mit der Arbeit gleich los.»Ja, liebe Langeweile, du bist mir echt abhandengekommen. Und das stimmt mich traurig, denn ich vermisse dich. Ja. Sehr sogar. Weil: Ich brauche dich. Du bist wichtig. In dir werden die Ideen geboren. «Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen.» Walter Benjamin hat das gesagt, oder? Das wäre ein super Spruch für deinen Grabstein. Aber so weit ist es nun doch noch nicht ganz, oder? Nicht, wenn es nach mir geht. Ich will dich zurück.Ich weiss: Um dich auszuhalten, dafür braucht es eine znünihafte Portion Zuversicht, Mut und Nervenstärke. All dies möchte ich aufbringen, denn du bist meine liebe Freundin, der ich viel zu verdanken habe. Und deshalb werde ich deine Feindin killen, die Carcassonne-App von meinem iPhone löschen. Und dann: Langeweile! Ich freu mich auf dich. Vorher aber ein einziges Spielchen noch. Zum Abschied. Ganz sicher nur eines! Versprochen. Jetzt. Schnell, schnell.
Viele Grüsse! Max
PS: Song zum Thema (passt zwar nur bedingt, dafür ist der Videoclip von Sofia Coppola schön langweilig): «I Just Don’t Know What To Do With Myself» in der Version von The White Stripes, Album «Elephant», 2003.