AUCH WENN MORGEN DIE WELT UNTERGINGE
Es gibt einen Schmerz, den nicht alle Menschen kennen. Er steckt unter dem Nagel des Zeigefingers oder Daumens der dominanten Hand, je nachdem, wie man an die Sache heranzugehen pflegt. Die Sache: eine noch in Cellophan eingeschweisste Schallplatte von dieser Cellophanhülle zu befreien. Dies geschieht nicht selten mit einer gewissen Hast, denn man möchte die Platte asap hören. Die sicherste Methode der Öffnung ist, ein Japanmesser oder einen Brieföffner zu verwenden, wobei insbesondere scharfe Japanmesser mit Vorsicht eingesetzt werden sollten, um nicht versehentlich die Hülle aus Karton zu verletzen. Jedoch ist meist gerade dann ein Werkzeug nicht zur Hand, wenn man es benötigt. Die zweitbeste Methode: die eingeschweisste Schallplatte mit gebührender Vorsicht auf dem Oberschenkel hin und her zu bewegen, so, dass durch die durch Reibung entstehende Hitze das Cellophan wegschmilzt. Jedoch hat man immer gerade dann Cordhosen an, und bei Cordhosen ist diese Methode definitiv nicht zu empfehlen. Also bleibt der Fingernagel; den hat der Mensch ja nicht bloss, um daran herumzukauen. Aber eben: Kaum geschlitzt, spürt man den feinen, stumpfen Schmerz.
Schallplatten: Ich weiss, die meisten schütteln da bloss den Kopf, insbesondere jüngere Menschen, zum Beispiel die Generation Z, die sagen bei Ausführungen über Vinyl augenverdrehend: «Geronto-Kitsch.» Weshalb sich für Geld etwas anschaffen, wenn man es gratis online haben kann? Warum sich mit Materie belasten? Aber was man dabei nicht bedenkt: Der Zugang zur Musik ist nicht nur ein akustischer. Man hat ja nicht bloss Ohren, sondern auch Augen und Finger.
Zuletzt geriet mir ein Album in die Hände: «7» von Madness, einer britischen Ska-Punk-Pop-Band.
Als ich «7» kaufte, war ich wohl vierzehn Jahre alt. Nicht dass ich heute noch tagein, tagaus Madness höre – damals tat ich es. Und als ich die Platte in die Hand nahm, erinnerte ich mich daran, wie ich sie als Bub in den Händen hielt, sah vor dem inneren Auge mein Kinderzimmer und den Blick aus dem Fenster auf den Sportplatz, mein bleiches Gesicht mit der schrecklichen Frisur obendrauf, erinnere mich an die grossen Gefühle eines kleinen Menschen – und wie der Song «Grey Day» mich verwirrte. Eigentlich waren Madness eine Spasstruppe, bekannt für ihren nutty sound, im Song «Benny Bullfrog» etwa wurde gerülpst, das fand ich grossartig. Das dunkle «Grey Day» aber liess mich ahnen, dass das Leben vielleicht nicht nur heiter werden würde.
Einen Song zu hören ist das eine. Ein Album in den Händen zu halten, es zu betrachten, während man den Song hört, ist etwas ganz anderes. Deshalb gehe ich noch immer in Schallplattenläden. Sowieso: Schallplattenläden und die persönliche Beratung, die dort geboten wird, etwa bei Jama am Helvetiaplatz in Zürich. Unbezahlbar. Und das Gefühl, mit einer Tüte Schallplatten nach Hause zu spazieren: wie als Höhlenmensch erfolgreich von der Jagd zu kommen mit fetter Beute.
Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, ich würde heute noch eine Schallplatte kaufen. Und mit dem Nagel des Zeigefingers das Cellophan aufschlitzen, damit ich an die Scheibe herankomme. Dann den feinen Schmerz unter dem Fingernagel spüren, auch noch an dem Tag, an dem die Welt bereits untergegangen wäre.
PS: Der letzte Kauf: «Les Duettes» von Arno. Eine Sammlung der Duette des 2022 verstorbenen belgischen Sängers mit der Käsereibestimme, z. B. mit Stephan Eicher oder Stromae («Putain Putain»).