ALLTAG, MEIN SORGENKIND
Ein jeder Tag beginnt mit einem Blatt Papier. Es liegt auf dem Frühstückstisch. Darauf habe ich am Vortag all die Dinge notiert, die zu erledigen sind, am besten subito oder zumindest im Laufe des Tages. Ohne diese To-do-Listen wäre ich als diagnoseloser Amateur-ADH-Sler komplett verloren. Sie sind meine Krücken zur Bewältigung des Alltags, der bekanntlich aus einer Vielzahl von Dingen besteht, die mühsam und lästig sind, aber um die man nicht herumkommt.
Früher war es anders. In den Neunzigern, als ich noch Single war und ein listenfreies Leben führte, verdrängte und vergass ich im grossen Stil. Und so blieb etwa auch sommers mal der Müllsack für ein Weilchen auf dem Balkon stehen. Einen solchen vergessenen Sack trug ich an einem Sonntag endlich runter, ich war auf dem Weg zu einem Vortrag von Albert Hofmann, dem Entdecker von LSD, und ich bemerkte nicht, dass Saft aus dem Müllsack sickerte und meine Hose nässte und die Schuhe. Es war über Tage hinweg im süssen Basler Sonnenschein gereifter Saft von Überresten von Fischen, die ich verkocht hatte. Ein Saft, der sein abartiges Odeur aber erst so richtig ganzheitlich entfaltete, als ich im Publikum sass und Albert Hofmann lauschte, der mit sanfter und zugleich bestimmter Stimme über neue Dimensionen des Bewusstseins sprach. Der Geruch war ebenfalls von einer neuen Dimension. Und irgendwann war allen klar, woher dieser olfaktorische Horrortrip kam. Noch selten haben sich so viele Köpfe nach mir umgewandt wie damals, als ich durch den Mittelgang aus der Kirche hastete.
Seither ist das Heruntertragen von Müllsäcken für mich eine Achtsamkeitsübung, vollstreckt mit ausgestrecktem Lastenarm; zudem halte ich permanent Augenkontakt zur potenziellen Kontaminationsquelle, bis sie im Container verschwunden ist.
Heute bin ich ein anderer Mensch als damals, total organisiert, erledige innert nützlicher Frist, was zu erledigen ist – dank der Wunderhilfe der Listen. Zudem haben diese Listen einen positiven Effekt auf Beziehung und Familie. Denn eine To-do-Liste ist ein innerfamiliär für alle Interessierten einsehbares Protokoll all der Dinge, welche alsbald von mir gelöst sein würden – oder die bereits erledigt sind. Damit nicht nur ich selbst, sondern auch die anderen es sehen können, schwarz auf weiss: Da ist einer am Werk, der die Dinge anpackt! Ein Macher! Ein wahrer Problemlöser vor dem Herrn!
Eine To-do-Liste, durch die man sich ackert, besitzt eine eigene Schönheit. Sie verleiht einem das Gefühl, man habe die Dinge im Griff und alles unter Kontrolle.
Nun habe ich einen Trick gefunden, wie sich dieses Gefühl noch steigern lässt. Es ist ganz simpel: Ich schreibe auch Dinge auf, die aufzuschreiben ich vergessen hatte, die aber längst erledigt sind. Zum Beispiel «Kaffee bestellen»: War zwar eine Woche her, fünfzig Tassen waren schon gekippt, trotzdem setzte ich es auf die Liste, nur um es dann sogleich durchzustreichen. Erledigt! Kleinigkeiten und vermeintliche Selbstverständlichkeiten machen sich ebenfalls gut. «Einmal in den Himmel blicken» – Erledigt! «To-do-Liste nachführen» – Erledigt!
Auch der heutige Tag begann mit einer Liste. Sie liegt vor mir. Darauf steht der Punkt «Kolumne schreiben». Mit einem fetten Filzstift in der Hand und einem feinen Lächeln im Gesicht habe ich diese Worte gerade eben durchgestrichen. Erledigt! Und schon sehe ich halb scharf im Augenwinkel den nächsten Punkt: «Steuererklärung ausfüllen». Schnell ist das Blatt gewendet. Die Rückseite ist gänzlich weiss und wunderschön.