• September 2017

Lieber Herr Haefliger

man sieht viel, man liest viel. Und unlängst vernahm ich die Anklage des Topmodels Tamy Glauser, die verkündete: «Brötli im Abfall sind dekadent!» Sie hatte nämlich mit eigenen Augen gesehen, mit der Handykamera gefilmt und via Twitter verbreitet, wie in einer Coop-Filiale kurz vor Ladenschluss noch essbare Brotwaren von einer Verkäuferin brutal in den Müll geschmissen wurden. Tamy Glauser sagte auch: «Ich finde Foodwaste schlimm. Nur weil es uns so gut geht und an nichts fehlt hier in der Schweiz, ist es nicht nötig, dekadent zu werden.» Ich musste schmunzeln: Ein Model, das, als Indianerbraut verkleidet, für «Harper’s Bazaar Kasachstan» posiert, das für den vehementen Echtpelzbefürworter Jean Paul Gaultier (sic!) das Gesicht hinhält, das für Krokodillederverarbeiter Louis Vuitton über den Laufsteg stöckelt, beklagt sich über Aufbackwarendekadenz – die Frau hat echt Humor. Und ich muss doch sagen: Verglichen mit dem Film über die Praxis der Häutung lebendiger Krokodile auf der «Tón Phát Crocodile»-Zuchtfarm in Vietnam, ist das getwitterte Brötligate-Video von Tamy Glauser doch etwas latschig, egal wie oft sie darauf «dasch crazy, dasch ächt crazy» jammert.

Ja, man sieht viel, und man liest viel, und im Wartezimmer meines Zahnarztes las ich einen Satz von Ihnen, lieber Herr Haefliger, einen Satz, der meine Stirn in Falten legte, so wie einst das Plattengeschiebe im späten Miozän den Jura in Falten gelegt hat. Sie sind ja Musiker, ausgebildeter Geiger, zudem Intendant des renommierten Lucerne Festival, welches sich zusammen mit der Privatbank Vontobel als «Themensponsor» in diesem Jahr das schöne Motto «Identität» ausgesucht hat (siehe auch Seite 20). Im Wartezimmer meines Zahnarztes blätterte ich zwecks Ablenkung kommender Dinge in der «Schweizer Illustrierten», und dort las ich, was Sie in einem Interview zu jenem Motto gesagt haben, nämlich: Es stelle sich die Frage, ob Musiker und Künstler nicht auch Flüchtlinge seien, «die der normalen Realität zu entfliehen versuchen und darum immer wieder eine neue Identität suchen müssen».
Erst dachte ich: Ja! Voll! Das stimmt! Künstler sind Flüchtlinge, sie fliehen vor der Wirklichkeit der Brotlosigkeit und beantragen Asyl im Land der Subventionen. Ich dachte weiter über Ihre Aussage nach, während ich den Geräuschen aus den Tiefen der Zahnarztpraxis lauschte: leises Wummern eines Kompressors, gedämpftes Kreischen eines Bohrers, weiches Klingeln eines Telefons (und war das nicht auch ein erstickter Schrei?). Ihre These würde bedeuten, dass alle Menschen, die vor der Wirklichkeit zu fliehen versuchen, Flüchtlinge sind – oder? Dann wäre jeder Alkoholiker ein Flüchtling. Jeder Arbeitsfaule. Jeder Schulschwänzer.
Steile Thesen finde ich grundsätzlich gut, aber ehrlich gesagt weiss ich nicht, was ein Flüchtling darüber denkt, sagen wir: ein Flüchtling aus der kriegsversehrten Stadt Aleppo, der alles zurückgelassen hat und gerade über das Mittelmeer gekommen ist, Hunderte von Kilometern in den Knochen, dem Konflikt entronnen, das Leben gewonnen, und er trifft auf einen Künstler, und der sagt zu ihm: «Hey, so ein Zufall, ich bin wie du, ich bin auch ein Flüchtling!» Was soll der Flüchtling da denken? «Hey, so ein Zufall, ich bin auch ein Künstler!»? Eher nicht, oder? Und dann stellte ich mir vor: Was, wenn dann noch ein klagendes Model in einem Gaultier-Leguanledermantel dazukommt, mit einer Tüte Brot in der Hand? Dazu tritt aus der Dunkelheit eine Dutzendschaft von Privatbankern, ein jeder von ihnen mit einem Steuerflüchtling an der Hand. Und dann fangen alle zu singen an: «Va, pensiero, sull’ali dorate». Das gäbe eine sehr schöne Operette, dachte ich, während ich im Wartezimmer meines Zahnarztes sass und sah, wie eine weiss gekleidete Dame hereinkam. Sie lächelte, und ich hörte sie einen Namen sagen. Es war der meinige.
Mit flüchtigen Grüssen, Max Küng
PS: Song zum Thema: «Model» von The Balanescu Quartet vom Album «Possessed», 1992.
PPS: Eben erschien «Die Rettung der Dinge», ein Taschenbuch mit hundert meiner besten Kolumnen aus den letzten Jahren. Verlag Kein & Aber, 365 Seiten. 18 Franken. Ein ideales Geschenk für Alt und Jung!