• Juli 2017

Früher gab es kein früher

Als ich die steinernen Stufen des Klubs emporstieg, da gab es keine Nuancen, keine Grautöne, es gab bloss Hell und Dunkel und harte Kanten, so düster war der Keller, aus dem ich stieg, so gleissend die sommerliche Stadt, in die ich wollte. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war kurz nach zwei Uhr nachmittags. Es war eine Weile her, seit ich das letzte Mal um zwei Uhr nachmittags aus einem Klub gekommen war. Früher kamen solche Dinge vor. Gut, zwei Uhr nachmittags war nie die Regel, aber doch war man früher zu anderen Zeiten an anderen Orten. Man ging grinsend aus dem Haus, wenn der Nachbar müde nach Hause kam. Man kam grinsend nach Hause, wenn der Nachbar müde zur Arbeit ging. So war es früher. Ja, früher!

Früher gab es kein «früher». Früher gab es bloss «jetzt» und «gleich» und «sehr bald». Früher war «früher» ein Wort der anderen; ein abstrakter Begriff, der sich einem nicht erschliessen wollte, den jene Menschen gebrauchten, die alt waren. Menschen, die einem Dinge erzählten, die man nicht hören wollte. Heute ist man selber alt, und man gebraucht «früher» öfter, als einem lieb ist, nicht selten in Kombination mit einem selig-schmalen Lächeln und einem ins Nichts gerichteten Blick. «Früher» ist mehr als ein Wort, es ist ein Werkzeug, ein Dosenöffner, um einen Blick in die Büchse der nachglühenden eigenen Vergangenheit zu werfen, in der nicht alles besser gewesen ist, bestimmt aber anders. Ja, früher kam einem das Leben vor wie ein nagelneuer Fidget Spinner: Einmal in Schwung gesetzt, liefen die Dinge und liefen und liefen und liefen und liefen und liefen und liefen und liefen und liefen mit einer Leichtigkeit, als würden sie niemals, niemals, niemals je enden. Heute ist anstatt Fidget Spinner eher öfter Hamsterrad angesagt. Eines mit schon etwas Flugrost an der einfach gelagerten und leise ächzenden Hohlachse, welche man dann und wann mit etwas Alkohol zu ölen versucht.

Es war also kurz nach zwei Uhr nachmittags, als ich aus dem Klub kam. Mit der Hand versuchte ich die Augen vor dem blitzhellen Licht des Tages zu schützen, und ich erwartete nichts anderes, als dass mich die Sonnenstrahlen sogleich zu Staub zerrieben, dass von mir nichts übrig blieb ausser einem Häufchen Dust und einer verschmürzelten iPhone-Batterie. Auf dem Trottoir stand ich, und die Strahlen des Zentralgestirns endeten auf meiner bleichen Haut, die Strahlen, die 150 Millionen Kilometer gereist waren, bloss um mich zu blenden. Aber nichts geschah. Ich stand da, und die Augen gewöhnten sich an die Helligkeit, bald war alles wieder so, wie es zuvor gewesen war: normal. Im Klub unten, hinter dem alles verschluckenden schwarzen Loch, zu dem die Treppe führte, dort mochte die Musik poltern, hämmern, rumoren, auf Erdbodenniveau rumpelten bloss die Trams durch die nahe Strasse, ein Auto hupte, ein Vogel zwitscherte, eine Amsel wohl.

Es ist übrigens ein wunderbarer Klub, dessen Name fast noch schöner ist, als er selbst ist: Kauz, gelegen gleich beim Busbahnhof, wo man aufpassen muss, dass man auf dem Heimweg nicht versehentlich in einen Reisecar nach Villingen-Schwenningen stolpert oder jenen nach Split. Ich hatte nun drei Stunden frei. Dann müsste ich wieder zurück in den Klub, weil: Um 17 Uhr wäre die Kinderdisko fertig, und ich müsste meinen Jüngsten wieder abholen, den ich kurz vor zwei Uhr in die Disko geleitet hatte. Drei kinderlose Stunden an einem Samstagnachmittag: Ich kaufte eine Grillzange, ein kariertes Notizbuch sowie sulfatund glykolfreie Handseife. Und ich freute mich auf den folgenden Tag: Am Sonntagmorgen würde um halb sechs der Wecker gehen, ich würde aufstehen, um mit dem Rennvelo um den See zu fahren. An früher würde ich dabei keine Sekunde denken. Weil: Früher dachte ich auch nicht an heute, weshalb also sollte ich heute an früher denken?

PS: Song zum Thema: «22nd Century» von Nina Simones Album «Here Comes the Sun», 1971 (also: früher).