• Juni 2017

Liebe Frau Kern

im Fricktal, so las ich in einer Zeitung, leben illustre Menschen. Sie fühlen sich von diesem Flecken am Rand des Landes angezogen. Der Schlagzeuger der Band Simply Red etwa. Der Bassist der Band Deep Purple etwa. Oder die Magenbitter-Erbin Hubertine Underberg Ruder.

Kein Wunder, denn im Fricktal ist es auch schaurig schön. Die prallen Hübel tun ihre Wirkung, wie auch die prächtigen Kirschbäume – und der «Möhlin-Jet» (ein wundersames Wetterphänomen: Südwestwinde aus dem Burgund zerfetzen aufkommenden Nebel im Raum Basel gnadenlos, folglich viele Sonnenstunden mehr und keine Mittellanddepression). Deshalb auch fuhr ich, ein Jahr ist es her, mit dem Velo durch diese Landschaft, über die Hügel, die lieblich anzusehen sind, in Tat und Wahrheit aber saftig steil. Bis ein Hund des Weges kam, quer über ein Feld rennend, zwischen Zuzgen und Zeiningen, dem die Zunge noch mehr aus dem Maul hing als mir. Aber nicht nur die Zunge, sondern auch die Zähne sah ich bald. Er dachte wohl, ich sei eine fahrende Wurst, was gar nicht so abwegig erscheinen mag, so wie man als Rennvelofahrer daherkommt in der prall engen Lycra-Pelle, und: Was weiss ich, was im 135 Gramm schweren Gehirnklumpen eines Hundes vorgeht.
Auf jeden Fall schlug er seine Zähne in mein Wadenfleisch, ich sah das Weiss in den Augen des knurrenden Tieres, sah das Rot des still sickernden Blutes. Ich ging auf den Notfall, empfing die Tetanusspritze, man spülte die Wunde auf eindrückliche Art tiefenrein, verband das Bein, mit einer grossen Schachtel Antibiotikapillen humpelte ich heim, und ich rief Sie an, Frau Kern, denn Ihnen gehört der Hund, dessen Name ich vergessen habe. Wie war er noch gleich? Wurzel? Wuffy? Wuschel?
Er war mit Ihrer Hundesitterin unterwegs gewesen, einer Frau namens Toya (ein Name, den ich über all die Monate nicht vergass), die hätte gesagt, er habe gar nicht gebissen, nur «so geschnappt». Ja, das sagten Sie am Telefon. Also schickte ich Ihnen per Mail Fotos der Wunde. Sie sagten dann: Oje. Und Sie sagten, so als Tipp für die Zukunft gemeint, freundlich: Wenn man abbremse, anhalte, anstatt Gas zu geben, dann lasse der Hund ab, er verliere dann seinen ihm angeborenen Jagdtrieb. Ich sagte: Hallo? Sie sagten, Wurzel/Wuffy/Wuschel sei ein so lieber Hund, ich solle bitte nichts unternehmen, was ihm schaden könne. Ich sagte: Ich bin ein erwachsener Mann, aber was, wenn ich ein Kind gewesen wäre? Was dann? Sie sagten daraufhin nichts.
Zwei kurze Telefonate führten wir. Ich meldete den Unfall bei der Versicherung, standardmässig dem Veterinäramt, sah von einer Anzeige wegen Körperverletzung ab, verzichtete wohl oder übel eine ganze Weile auf Sport, schonte das schmerzende Bein – und hörte nie mehr etwas von Ihnen. Es ging eine Weile, aber alles verheilte gut, Ihr Hund zerbiss zum Glück nicht mein sehniges Knie, sondern hatte weiter unten angesetzt, wo das Fleisch saftiger ist. Aber als Andenken blieb mir eine Narbe. Manchmal denke ich an Ihren Hund und an Sie. Ich denke: Hätte mein Hund jemanden gebissen, ich hätte mich nach einer Weile mal schüchtern erkundigt, wie es dem Menschen geht. Hätte nach dem Genesungszustand gefragt. Vielleicht sogar einen Früchtekorb geschickt. Zumindest einen Brief geschrieben, mich nochmals entschuldigt. Das wäre doch das Mindeste, denke ich. Aber eben, ich habe keinen Hund. Von Ihnen habe ich nie mehr etwas gehört. Einfach nichts. Was ich seltsam finde, mich andererseits jedoch auch nicht überrascht. Menschen sind manchen Menschen gleichgültig. Zottelige Hunde sind ihnen viel wichtiger.
Und dann denke ich: Vielleicht bin ich auch einfach etwas dünnhäutig. Eine dünnhäutige, beleidigte Leberwurst, in die gebissen wurde. Und dann denke ich wieder etwas anderes. Nämlich unfreundliche Dinge über Menschen mit Hunden wie Sie, die alle Vorurteile bestätigen. Und dann denke ich wiederum etwas anderes. Und so geht es hin und her, die Gedanken wedeln in meinem Kopf wie der Schwanz eines Hundes beim Anblick eines Knochens. Und alles wegen damals und Ihnen und Toya und wegen Ihres Hundes, dessen Namen ich nicht mehr weiss, der zubiss, tief und fest.


Max Küng


PS: Song zum Thema: «Telephone and Rubber Band» von The Penguin Cafe Orchestra, 1981.